Von Versailles bis Potsdam. André François-Poncet

Von Versailles bis Potsdam - André François-Poncet


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gegen uns entschied, erstand, ebenso wie das Rheinproblem, seit 1945 aufs Neue und zeigt sich in keinem anderen Lichte als 1919. Die auf der Moskauer Konferenz vertretene französische These ist eng mit der verwandt, die André Tardieu vor 28 Jahren vertrat. Sie besteht nicht mehr auf politischer Annexion, fordert aber neuerlich die Abtrennung der Saar von Deutschland, die Zollgemeinschaft und das Eigentumsrecht an den Gruben. Und heute wie einstens neigt England dazu, unsere Wünsche zu erfüllen; Amerika hat es weniger eilig, Russland aber lehnt ab.

      Die Lösung der Rhein- und Saarkonflikte auf der Friedenskonferenz von 1919 hatte außerdem den Charakter eines ehrlichen Ausgleichs. Jeder machte dem anderen ein Zugeständnis und erhielt von ihm eine Gegenleistung. Niemand war absoluter Sieger oder Verlierer. Es wäre schwer gewesen, sich besser aus der Affäre zu ziehen.

      Obwohl die Alliierten in vielen Punkten geteilter Meinung waren, hatten sie sich wahrhaft um Ausgleich bemüht. Keiner von ihnen wich jemals der Suche nach einem ehrenhaften Kompromiss aus. Man mag das Ergebnis ihrer Auseinandersetzungen beurteilen, wie man will. Jedenfalls haben die Alliierten Weite des Blicks, geistige Vornehmheit, Gefühlsstärke und Verantwortungsbewusstsein bekundet, die, wie wir innig wünschen, von ihren Nachfolgern erreicht werden mögen, aber gewiss nicht übertroffen werden können.

      Trotz ihrer Meinungsverschiedenheiten bildeten sie nach außen hin eine Einheitsfront und wiesen deshalb den Gedanken zurück, mit den Deutschen zu verhandeln. Am 7. Mai 1919 übergaben sie den Bevollmächtigten des Gegners die von ihnen getroffenen allgemeinen Bestimmungen des Vertrages sowie die Sonderbestimmungen für Deutschland und vertagten die Entscheidungen über die Organisation des europäischen Donauraums und des Balkans auf später. Denn sie waren – wie wir glauben, mit Recht – der Ansicht, dass das deutsche Problem das Hauptstück des Vertrages sei und man mit ihm beginnen müsse. Die Einwände der deutschen Delegierten hatten einige nebensächliche Änderungen zur Folge. Von ihren Gegenvorschlägen waren manche nicht ohne Interesse, z. B. der Vorschlag, dass das Reich eine Pauschalschuldsumme von 100 Milliarden anerkennen wollte, die durch Einzahlung eines bestimmten Betrages aus den Steuer-, Monopolund Zolleinnahmen in eine besondere Kasse verbürgt war, aber die Alliierten sahen von einer Prüfung der deutschen Anregungen ab. Sie forderten die Annahme oder Ablehnung ihrer Fassung des Friedensvertrages binnen einer sehr kurzen Frist. Im Falle der Ablehnung würden die militärischen Operationen wiederaufgenommen. War das richtig? Anscheinend sagten sie sich, dass Deutschland sich niemals gutwillig den ihm bekanntgegebenen Bedingungen fügen, eine Auseinandersetzung mit ihm sich unendlich lange – und nicht ohne Gefahr – hinziehen und schließlich doch mit einem Ultimatum enden würde. Deshalb zogen sie es vor, sofort ihren Willen durchzusetzen.

      So war es den Deutschen möglich, von Anfang an gegen die ihnen angetane Vergewaltigung zu protestieren. Der Vertrag von Versailles war nicht durch Verhandlungen zustande gekommen. Es war ein diktierter Vertrag, ein »Diktat«, das einzig und allein auf dem Recht des Stärkeren beruhte. Dem ist entgegenzuhalten, dass Verträge, die einen Krieg beenden, stets mehr oder minder die Hinnahme des Siegerwillens durch den Besiegten bedeuten. Doch die Deutschen hielten sich nicht für besiegt, nicht für militärisch besiegt. Naiverweise rechneten sie damit, der Friede werde so sein, wie ihn der Reichstag 1917 empfohlen und wie Prinz Max von Baden ihn im Oktober 1918 erbeten hatte: ein Verständigungsfriede. Sie hatten nicht die geringste Vorstellung von den Gefühlen und Rachegedanken, die sie bei ihren Gegnern und in der ganzen Welt hervorgerufen hatten.

      Schon die Waffenstillstandsbedingungen versetzten sie durch ihre Härte in Bestürzung. Ihre Bewunderung für Marschall Foch verwandelte sich in tiefen Groll. Für die Weigerung der Alliierten, zu verhandeln, und den in ihren Augen unmäßigen und unbarmherzigen Charakter des Friedensvertrages machten sie in erster Linie Clemenceau verantwortlich, weil es Clemenceau war, der im Namen der Alliierten zu ihnen sprach. Frankreich wurde daher sehr rasch für die Deutschen der Feind Nummer eins, der nur auf ihren Untergang bedacht war, und ihr Hass steigerte sich in den folgenden Jahren immer weiter bis zur höchsten Erbitterung. Seltsamerweise wurden sich die Franzosen darüber niemals so recht klar. Sie waren so völlig von der Gerechtigkeit ihrer Sache überzeugt, ihre Sicherheits- und Wiedergutmachungsforderungen schienen ihnen so natürlich und der gesunden Vernunft wie der Billigkeit entsprechend, sie fühlten sich selbst so weit von der Erfüllung aller ihrer Wünsche entfernt, dass sie kaum begriffen, wie Deutschland sie verabscheuen könne. Man wird sehen, wie sie hartnäckig auf der Erfüllung ihrer rechtmäßigen Forderungen bestehen, gleichzeitig aber eine Entspannung, eine Verständigung mit dem Reich suchen, ohne recht zu begreifen, dass das Reich sich ihnen nur annähern würde, wenn sie auf einen Teil ihrer Rechtsansprüche verzichteten. Die Franzosen glaubten, ein politischer Gegensatz schließe nicht notwendig auch einen wirtschaftlichen Gegensatz ein. Wiederholt bemühten sie sich, in den zwanzig Jahren zwischen den beiden Weltkriegen, ja, schon bald nach dem Friedensschluss, mit Alexandre Millerand und Botschafter Charles Laurent, dem Präsidenten des Verbandes der Metall- und Montanindustrie, späterem Botschafter in Berlin, Formeln für die wirtschaftliche Zusammenarbeit zu finden.

      Den Deutschen mussten bei ihrer geistigen Einstellung die politischen Bestimmungen des »Diktats« ungeheuerlich erscheinen. Der polnische Korridor schnitt in ihr lebendiges Fleisch. Preußen und damit Deutschlands Aufstieg ging auf die Vereinigung der ostpreußischen Provinzen mit der Mark Brandenburg zurück. Zwei Jahrhunderte deutscher Geschichte wurden in Versailles glatt verleugnet, und dies zugunsten eines Volkes zweiten Ranges, der verhassten und verachteten Polen, der »Polacken«. Danzig und Memel wurden Deutschland geraubt, dem sie allein ihr kulturelles Ansehen verdankten. Dass Elsaß-Lothringen an Frankreich zurückgegeben wurde, war keine Überraschung. Man fand sich damit ab. Ebenso fügte man sich in die Abtretung Nordschleswigs, Eupens und Malmedys, sowie in den Verzicht auf die Kolonien, die dem deutschen Volk niemals sehr am Herzen gelegen waren. Aber jeder Deutsche war außer sich darüber, dass man seinem Vaterlande die Provinz Oberschlesien, deren Blüte einzig und allein deutsches Werk war, streitig und ihr Schicksal vom Ergebnis einer Volksabstimmung abhängig machen wollte.

      Die militärischen Bestimmungen des Vertrages riefen keine geringere Entrüstung hervor. Für jeden Deutschen bedeutete die Aufhebung der militärischen Dienstpflicht einen schmerzlichen Verlust, die Verweisung der glorreichen und großartigen alten Armee auf den Rang eines kleinen Heeres ohne Flugzeuge, Panzer und schwere Artillerie eine furchtbare Demütigung, die Einsetzung einer Kontrollkommission, die überall herumschnüffelte, einen unerträglichen Zwang, und die zeitweilige Besetzung des linken Rheinufers und der Brückenköpfe durch fremde Truppen, zum Teil durch Senegalesenregimenter, eine Schande, die »schwarze Schmach«.

      Die finanziellen Bestimmungen wurden ebenfalls nicht als zulässig angesehen. Die geforderten Summen stellten keine reale Größe dar. Sie waren von astronomischer Höhe. Es konnte keine Rede davon sein, sie je zu bezahlen. So wie die Deutschen das Wort »Diktat« geprägt hatten, um den ganzen Vertrag zu brandmarken, prägten sie nun ein Wort zur Bezeichnung der finanziellen Forderungen der Alliierten, besonders Frankreichs. Diese finanziellen Forderungen waren keine Entschädigung, nicht einmal eine Wiedergutmachung; sie waren ein »Tribut«, wie er nur von versklavten Völkern erhoben wird. Was aber die Deutschen vielleicht noch mehr als alles andere verletzte, war die moralische Diskriminierung, womit der Vertrag sie traf, die Behauptung, dass sie am Kriege schuld seien. Mit Artikel 231 zwang man sie dazu, anzuerkennen, dass sie für den Angriff von 1914 verantwortlich und nun verpflichtet seien, die Folgen dieses Verbrechens wiedergutzumachen. Die Vorurteilsfreiesten unter den Deutschen wollten wohl eine geteilte Verantwortlichkeit für den Krieg zugeben, aber mit Ausnahme einer Handvoll Leute, die wussten, was sich am Vorabend des Krieges von 1914 hinter den Kulissen der kaiserlichen Regierung abgespielt hatte, erkannte niemand die These der Kriegsschuld an, am wenigsten die der kollektiven Schuld.

      Die Deutschen wiesen diese These 1919 zurück. Sie weisen sie auch heute, nach dem Zusammenbruch des Hitlerregimes, ebenso zornig und sogar mit noch weniger stichhaltigen Gründen zurück.

      Es verletzte sie zutiefst, dass man sie nicht für würdig hielt, ohne Weiteres in den Völkerbund einzutreten, dass man sie als Verworfene und Aussätzige betrachtete.

      Traf ihre Behauptung zu, dass der Vertrag von Versailles sich über die 14 Punkte Wilsons hinweggesetzt hatte? War es richtig, dass sie Opfer eines Betrugs geworden waren, als man ihnen diesen Köder vorhielt,


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