Von Versailles bis Potsdam. André François-Poncet
zu prüfen, braucht man nur auf diese 14 Punkte zurückzugreifen:
1.Räumung und Wiederherstellung Belgiens ohne jeden Versuch einer Einschränkung seiner Souveränität
2.Räumung des französischen Gebiets; Wiederherstellung seiner besetzten Gebiete; Wiedergutmachung des Frankreich 1871 zugefügten Unrechts in Bezug auf Elsaß-Lothringen
3.Räumung des russischen Gebiets und eine Regelung, die es Russland gestattet, über sein Schicksal in voller Unabhängigkeit zu entscheiden
4.Berichtigung der italienischen Grenzen gemäß dem Nationalitätenprinzip
5.Möglichkeit autonomer Entwicklung für die Völker Österreich-Ungarns
6.Räumung und Wiederherstellung Rumäniens, Serbiens und Montenegros; freier Zugang zum Meer für Serbien
7.Beschränkung der ottomanischen Souveränität auf die tatsächlich türkischen Gebiete; Autonomie für alle anderen Nationalitäten; internationale Garantien für den freien Durchgang durch die Dardanellen
8.Ein unabhängiges Polen mit freiem Zugang zum Meer
9.Bildung eines Völkerbundes zum Zweck der Gewährung gegenseitiger Garantien für politische Unabhängigkeit und territoriale Integrität sowohl für die großen wie für die kleinen Staaten
10.Unparteiische Regelung der Kolonialfragen
11.Wechselseitige Garantien für die Herabsetzung der Rüstungen
12.Nach Möglichkeit Aufhebung der wirtschaftlichen Schranken; gleichmäßige Handelsbedingungen für alle Nationen
13.Freiheit der Meere
14.Öffentliche Friedensverträge unter Ausschluss geheimer Abmachungen zwischen den Nationen für die Zukunft
Diesem von Wilson entworfenen Programm schenkte Deutschland weder Aufmerksamkeit noch Interesse, als es am 8. Januar 1918 veröffentlicht wurde. Liest man es durch, so kann man darin in Wahrheit nur die Vorahnung der großen Umrisse erblicken, in denen die Gestalt Europas aus den Beratungen und Entscheidungen der Friedenskonferenz hervorging.
Was nun Deutschland betrifft, so findet man darin nichts, was in flagrantem Widerspruch zu den Bestimmungen des Vertrages steht, mit Ausnahme vielleicht des 10. Punktes, der von der unparteiischen Regelung der Kolonialfragen spricht. Und auch da könnte man noch über den Sinn des Wortes »unparteiisch« streiten. Übrigens war es nicht der Verlust ihrer Kolonien, der die Deutschen am meisten schmerzte.
Wenn es nun auch normal war, dass die Deutschen sich in ihrem Stolz und in ihren unermesslichen Illusionen durch die Bestimmungen des ihnen auferlegten Vertrages verletzt fühlten, wie kam es, dass die Franzosen ihrerseits mit diesen kaum weniger unzufrieden waren?
Die Rückgewinnung Elsaß-Lothringens war für sie ein Anlass tiefer Befriedigung, aber in ihren Augen war sie nur die Beseitigung einer Ungerechtigkeit, kein positiver Gewinn. Von lebenswichtigem Interesse erschienen ihnen die Probleme der Wiedergutmachung ihrer Kriegsschäden und ihrer Sicherheit. Diese aber waren nur unvollkommen, fragwürdig und zu beiläufig gelöst worden.
Grundsätzlich war in dem Vertrag das Recht auf vollständige Wiedergutmachung der in Frankreich erlittenen Personen- und Sachschäden anerkannt worden. Allerdings hatte man tatsächlich weder die für die vollständige Wiedergutmachung dieser Schäden notwendige Summe noch die Modalitäten ihrer Einhebung und Zahlung festgesetzt. Hierfür sollte die Reparationskommission sorgen. Da sie jedoch aus Vertretern der alliierten Regierungen bestand, musste man sich fragen, ob ihr das glücken würde, nachdem es den Vertretern derselben Regierungen während der Verhandlungen der Friedenskonferenz nicht gelungen war. Die in dieser Hinsicht auf Frankreich lastende Ungewissheit war umso bedenklicher, als sich der französische Staat seit April 1919 unverzüglich an Stelle Deutschlands gegenüber den Geschädigten zur Vergütung ihrer Schäden verpflichtet hatte. Diese Handlungsweise stand einzig da. 1871 hatte man Thiers nahegelegt, die Franzosen zu entschädigen, deren Hab und Gut im Kriege zerstört worden war. Er hatte es aufs heftigste abgelehnt und ausgerufen: »Ihr wollt also, dass der Staat Bankrott macht?« Der französische Staat war also verpflichtet, seinen Angehörigen Zahlungen zu leisten, die er selbst noch nicht von seinem Schuldner erhalten hatte. So musste er das unerfreuliche Aussehen eines auf Zwangsvollstreckung gegenüber einem widerspenstigen Schuldner versessenen Gerichtsvollziehers annehmen, eines auf sein Pfund Fleisch erpichten Shylock. Er hätte hinter einer Schuldforderung herlaufen müssen, die er nur mithilfe seiner Alliierten hätte eintreiben können, die an der Sache weniger interessiert waren als er selbst und mit der Zeit seines Drängens müde geworden wären. Und dies hätte sich natürlich auf die Beziehungen zwischen Gläubiger und Schuldner ausgewirkt. Die deutsch-französischen Beziehungen hätten sich im Zustand einer ständigen Krise befunden. Der Friede wäre lahm geblieben.
Das Saarstatut verschaffte Frankreich wertvolle Kohlenzuschüsse, aber seine Dauer war begrenzt und es konnte einer Revision unterzogen werden.
Auch hinsichtlich seiner Sicherheit wurde Frankreich nicht von seinen Sorgen befreit. Die Vorschriften des Vertrages waren streng, doch sie mussten auch eingehalten werden. Eine Kontrollkommission sollte darüber wachen – eine undankbare und schwierige Aufgabe gegenüber einem Land, das sich der Kontrolle zu entziehen suchte. Ein französischer General sollte Präsident der Kommission sein. Wieder wäre es also Frankreich, das sich dadurch in erster Linie der Rachsucht der Deutschen aussetzte. Überdies war es recht ungewiss, ob das von den Versailler Vertragspartnern beschlossene System des Berufsheeres, das sich auf dem Wege langfristiger Anwerbungen ergänzte, wirklich das am wenigsten gefährliche von allen war. Unter der Voraussetzung, dass eine Entwaffnung Deutschlands tatsächlich erreicht wurde, musste man sodann zur allgemeinen Abrüstung der anderen Länder übergehen. Denn der Vertrag besagte ausdrücklich – und Clemenceau hatte es in einem Brief an die deutsche Delegation bestätigt –, dass die Entwaffnung Deutschlands nur das Vorspiel zu einer allgemeinen Abrüstung wäre; und dies eröffnete recht beunruhigende Aussichten. Schließlich hatte Frankreich als Entgelt für einen englisch-amerikanischen Hilfspakt auf die Rheingrenze verzichtet. Würde dieser Pakt ratifiziert werden? Wurde er es nicht – und er sollte es tatsächlich nicht werden; am 19. März 1920 war er schon hinfällig –, so war Frankreich überlistet worden. Nach fünfzehn Jahren sollte die Besetzung des linken Rheinufers ein Ende nehmen. Fünfzehn Jahre, das war die Zeit, die Deutschland brauchte, um sich wieder zu erheben und seine Kräfte wiederherzustellen. Mit anderen Worten, die durch die Besetzung gegebenen Garantien schwanden in demselben Augenblick dahin, da sie zur Notwendigkeit wurden. Auf diese Fehler und künftigen Gefahren hat niemand mit größerer Deutlichkeit und größerem Nachdruck hingewiesen als Marschall Foch noch vor der Übergabe des Textes an die deutschen Delegierten, und es kam deswegen zu einem unheilbaren Bruch zwischen ihm und Clemenceau.
Richtig ist, dass man dem allerdings entgegenhalten konnte, den bedingten und vorübergehenden Sicherheitsgarantien für Frankreich ordne sich die allgemeine Garantie über, die durch die Einsetzung des Völkerbundes gegeben war. Der Völkerbund war in der Tat das Hauptstück des Vertrages, seine Krönung und sein Dach. Mit dem Text der Völkerbundssatzung, des Paktes einer Liga der Nationen, hob das Buch des Vertrages an. Der Gedanke einer Vereinigung der Nationen zur Erhaltung des Friedens und ewigen Verbannung des Krieges war nicht neu. Er spukte seit Jahrhunderten in den Köpfen der Menschheit. Wilson hatte ihn nicht erfunden, aber er hatte ihn sich zu eigen gemacht. In ihn hatte er sein ganzes idealistisches und puritanisches Vertrauen gesetzt, die innere Glut eines Kreuzfahrers und auch seine Sehnsucht, in der Geschichte eine unverwischbare Spur zu hinterlassen. Übrigens entsprachen seine Gefühle denen der Frontkämpfer, und die Verwirklichung des Plans, die Veröffentlichung des Statuts der Liga hatten eine mächtige Woge der Hoffnung erregt.
Aber der Völkerbund war mit schweren Gebrechen behaftet zur Welt gekommen. Der Pakt, der ihn begründete, war an den Friedensvertrag gebunden. Er verpflichtete die Mitglieder, die Gerechtigkeit walten zu lassen und die Vertragsverpflichtungen unbedingt zu achten. Nun leugneten aber die besiegten Völker, dass der Vertrag auf dem Grundsatz der Gerechtigkeit aufgebaut sei. Sollten sie sich nun verpflichten, einen Vertrag einzuhalten, den sie für ungerecht hielten? Zunächst waren sie gar nicht zum Völkerbund zugelassen. Der Pakt sah in seinem