Von Versailles bis Potsdam. André François-Poncet
besonders hassenswerten Artikel dieses Diktats, dem Artikel 231, zwangen sie Deutschland, sich als schuldig am Kriege zu bekennen. Daraus leiteten sie die Verpflichtung zur Zahlung von Reparationen in astronomischer Höhe ab. Hiernach ließen sie Deutschland nicht einmal zum Völkerbund zu.
Deutschland unterzeichnete diesen leoninischen Vertrag, weil es gefesselt war und nicht anders konnte. Aber diese erpresste Unterschrift verpflichtet es nicht. Und die Deutschen werden, sobald sie können, die Ketten sprengen, mit denen man sie gefesselt hat.
Diese hier kurz zusammengefassten Thesen wurden in Deutschland so stark und eindringlich verbreitet, fanden so allgemeine Annahme und finden auch heute noch überall so viel Glauben, dass es der Mühe wert ist, sie den Tatsachen gegenüberzustellen. Wir wollen für den Augenblick die den angeblichen Betrug durch Wilsons 14 Punkte betreffende Behauptung beiseitelassen, dagegen die These prüfen, wonach das deutsche Heer nicht militärisch geschlagen worden sei, der unter dem Druck der Zivilisten erbetene Waffenstillstand ebenso wie der Friede hätten verhandelt werden können, wenn nicht der sozialistische Dolchstoß und der Verrat der Heimat Deutschland zur Ohnmacht verurteilt hätten.
Als am 11. Dezember 1918 die Truppen der Berliner Garnison in die Hauptstadt zurückkehrten und durch das Brandenburger Tor einzogen, hatten Offiziere und Soldaten ihre Helme mit Eichenlaub geschmückt. Und die Begrüßungsrede, die Ebert, der Präsident der Regierung der Volksbeauftragten, die aus der Revolution vom 9. November hervorgegangen war, an sie richtete, begann mit den Worten: »Ich grüße Euch, die Ihr unbesiegt von den Schlachtfeldern zurückkehrt!«
Der Schweizer Journalist René Payot1 hat kürzlich erzählt: »Ich habe im Dezember 1918 in Berlin den Einzug der Garderegimenter mitangesehen. Nun, ich versichere Sie, dass ich während eines ganzen Nachmittags das Gefühl hatte, einem Vorbeimarsch siegreicher Truppen beizuwohnen, denen man Blumen zuwarf!«
So trägt auch das zu Ehren der auf dem Felde der Ehre gefallenen Berliner Studenten errichtete Mal folgende Inschrift: Invictis victi victuri – den Unbesiegten von gestern die Besiegten von heute, die morgen Sieger sein werden! – In Wirklichkeit verhalten sich die Dinge ganz anders, als sie in der Darstellung erscheinen, welche zu geben die herrschenden, besonders die militärischen Kreise sich hartnäckig und von Anfang an bemüht haben.
In der ersten Juliwoche 1918 besucht Admiral von Hintze, eben zum Staatssekretär des Äußeren ernannt, Ludendorff in Avesnes und stellt ihm folgende Frage:
»Sind Sie gewiss, den Feind entscheidend und endgültig zu schlagen?«
»Auf Ihre Frage«, erwidert Ludendorff, »antworte ich mit einem kategorischen Ja.«
Aber am 3. August, als in Spa ein großer Kronrat stattfindet, an dem Wilhelm II., der österreichische Kaiser, Reichskanzler von Hertling, von Burián, Hindenburg und Ludendorff teilnehmen und jeder, besonders aber der Kaiser von Österreich, Besorgnisse um die Zukunft zu erkennen gibt, sagt Ludendorff zu Hintze: »Jetzt habe ich nicht mehr die gleiche Gewissheit«, und er setzt sich für eine strategische Defensive ein, die den Gegner ermüdet und ihn für Friedensverhandlungen geneigt macht.
Es ist aber das deutsche Heer, dessen Reserven immer knapper werden, das ermüdet ist und an Frieden denkt. Österreich seinerseits zieht sich mehr und mehr zurück. Man beginnt, nach einem Neutralen zu suchen, der den Gegner ausforschen soll.
Am 26. September zieht sich Bulgarien aus dem Kampf zurück.
Am 1. Oktober ruft Ludendorff unter dem Eindruck der wiederholten Schläge, die ihm Fochs Armeen versetzen, zwei Beamte der Wilhelmstraße, Grünau und von Lersner, zu sich und erklärt ihnen: »Es muss augenblicklich ein Friedensangebot gemacht werden. Heute hält die Truppe noch stand, aber man kann nicht voraussehen, was morgen geschieht!«
Und am gleichen Tage, um Mitternacht, ruft er sie telefonisch an: »Das Heer kann keine 48 Stunden mehr warten!«
Prinz Max von Baden, der soeben die Nachfolge des Reichskanzlers von Hertling angetreten und ein parlamentarisches Kabinett nach westlichem Muster gebildet hat, sichtlich um leichter mit den Alliierten zu verhandeln, fordert einen Aufschub und will sich erst informieren. Am 3. Oktober schreibt ihm Hindenburg: »Es besteht keine Hoffnung mehr, den Feind zum Friedensschluss zu zwingen. Die Lage wird von Tag zu Tag kritischer und kann die oberste Heeresleitung zu folgenschweren Entschlüssen zwingen!«
Am 5. Oktober entschließt sich Max von Baden durch Vermittlung der Schweiz an den Präsidenten Wilson zu telegraphieren; er bittet ihn, sofort einen Waffenstillstand abzuschließen und die Kriegführenden zu Friedensverhandlungen auf der Basis der 14 Punkte zusammenzurufen.
An diesem Datum des 5. Oktober 1918 gibt es noch keinerlei revolutionäre Erhebung, keinen Dolchstoß der »Roten«, keinen Verrat der Heimat. Dennoch gibt die oberste Heeresleitung, geben Hindenburg und Ludendorff, die Abgötter des deutschen Volkes, zu, dass die Armee besiegt ist. Sie erklären sich außerstande – freilich nicht öffentlich –,noch länger den Angriffen des Gegners Widerstand zu leisten. Nur ein Gedanke beschäftigt sie noch: durch einen sofortigen Waffenstillstand und Aufnahme von Friedensverhandlungen einen katastrophalen Zusammenbruch der Front und die Invasion zu verhüten.
Sie sind noch mehr besiegt als nach einer Schlacht, da sie nicht einmal mehr das Risiko dieser Schlacht auf sich nehmen und von vornherein gewiss sind, sie zu verlieren.
Und wie es nicht der Verrat der Heimat ist, der sie zur Kapitulation zwingt, so ist es auch nicht die zivile Gewalt, die sie drängt, Frieden zu schließen. Im Gegenteil; sie selbst sind es, die die zivile Gewalt drängen, den Reichskanzler Max von Baden bestürmen, ihnen den bang ersehnten Waffenstillstand zu verschaffen.
Vom 5. bis zum 21. Oktober entspinnt sich ein telegraphischer Dialog zwischen dem Präsidenten Wilson und dem Reichskanzler. Dieser Dialog bezeugt, dass der Präsident der Vereinigten Staaten nicht bereit ist, das deutsche Angebot ohne Abwägen der Aktiv- und Passivposten anzunehmen und zu vermitteln. Er lässt sich auf keine Auseinandersetzung ein und stellt vorläufige Bedingungen. Nach diesem Notenwechsel besteht für Deutschland kein Zweifel mehr. Der Waffenstillstand wird nicht verhandelt. Er kann nur angenommen oder abgelehnt werden. In dieser Beziehung ist Wilson sehr geschickt verfahren, aber in anderer Hinsicht begeht er einen politischen und psychologischen Fehler.
Er teilt mit, dass die Alliierten nicht mit jener militärischen Macht einen Vertrag schließen werden, die den Weltfrieden gebrochen hat. Damit regt er die Absetzung oder Abdankung Wilhelms II. an. Aber er meint gleichzeitig Hindenburg, Ludendorff und den ganzen Generalstab. Dieser ergreift unverzüglich den Vorteil, den er daraus ziehen kann. Er zieht sich aus dem Spiel zurück und versteckt sich hinter den Zivilisten. Übrigens war er infolge der Reformen des Prinzen Max von Baden der zivilen Gewalt unterstellt worden. Er lässt es zu, dass ein sehr rühriger Reichstagsabgeordneter, der schon seit längerer Zeit die Reichspolitik dem Frieden zuzusteuern empfiehlt, Matthias Erzberger, mit dem Vorsitz der deutschen Delegation betraut wird, die die Bedingungen der Alliierten entgegennehmen soll. Hindenburg gibt ihm seinen Segen und dankt ihm später, dass er seine Aufgabe so gut erfüllt habe. Doch die Öffentlichkeit erfährt davon nichts. Und mit außergewöhnlichem Zynismus behaupten die deutschen Militärs später, mit der Kapitulation nichts zu tun gehabt zu haben. Der Schein ist für sie. Man glaubt ihnen, wenn sie aufgrund eines schamlosen Betruges erklären, sie hätten nur dem Willen der Zivilisten gehorcht. Ohne Zweifel wäre es besser gewesen, Hindenburg und Ludendorff selbst wären nach Rhetondes gegangen und hätten dort ihre Namen unter das Dokument gesetzt, um hiernach, ihres Ansehens beraubt und mit dem Brandmal der Niederlage gezeichnet, in die Heimat zurückzukehren.
Wäre es nicht auch besser gewesen, Marschall Foch hätte das Angebot des Waffenstillstandes abgelehnt, die vorbereitete Schlacht geliefert und dadurch die Möglichkeit gewonnen, in Deutschland einzudringen?
Die von ihm aufgestellten Bedingungen enthielten die Räumung Belgiens, Frankreichs, Elsaß-Lothringens, des linken Rheinufers und seiner Brückenköpfe, die Auslieferung von 5000 Geschützen, 25 000 Maschinengewehren, 3000 Granatwerfern, 5000 Lokomotiven, 150 000 Güterwagen, 1700 Flugzeugen, 5000 Lastkraftwagen, 100 U-Booten, 8 leichten Kreuzern, 6 Panzerschiffen, die Aufrechterhaltung der Blockade, den Verzicht auf die Kolonien. Nach einer durch einen