Ein Schwarzer geht durch die Stadt. Garnette Cadogan


Ein Schwarzer geht durch die Stadt - Garnette Cadogan


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      Garnette Cadogan

      Ein Schwarzer geht durch die Stadt

      Aus dem amerikanischen Englisch von Andreas Jandl und Frank Sievers

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       My only sin is my skin. What did I do, to be so black and blue?

      - Fats Waller, »(What Did I Do to Be So) Black and Blue?«

       Manhattan’s streets I saunter’d, pondering.

      – Walt Whitman, »Manhattan’s Streets I Saunter’d, Pondering«

      Gefallen am Gehen fand ich schon als Kind, aus Notwendigkeit. Undank eines prügelnden Stiefvaters war mir jeder Grund willkommen, nicht zu Hause sein zu müssen, war ich meistens unterwegs – bei Freunden oder auf Straßenpartys, wo Minderjährige nichts zu suchen hatten –, bis kein Bus und Zug mehr fuhr. Also ging ich zu Fuß.

      Die Straßen Kingstons waren im Jamaika der achtziger Jahre oft beängstigend – es konnte schon den Tod bedeuten, wenn irgendein politischer Gefolgsmann dachte, man käme aus dem falschen Stadtteil, oder man Kleidung in der falschen Farbe am Leib trug. Orange zeigte Nähe zur einen politischen Partei, Grün zur anderen, und wer neutral war oder sich weiter weg von zu Hause befand, achtete genau auf die Wahl der Kleidung. Die falsche Farbe im falschen Stadtteil konnte dein letztes Stündlein bedeuten. Kein Wunder, dass meine Freunde und die wenigen Passanten mich wegen meiner nächtlichen Wanderungen durch politisches Kriegsgebiet für verrückt erklärten. (Manchmal tat ich sogar, als wäre ich verrückt, und redete an besonders gefährlichen Stellen wirres Zeug vor mich hin, etwa an einem Regenkanal, an dem sich Diebe versteckt hielten. Der dumm daher brabbelnde Junge in Schuluniform wurde von den Beutegreifern einfach ignoriert oder ausgelacht.)

      Ich freundete mich mit Fremden an und entwickelte mich vom schüchternen Tollpatsch zum extrovertierten Tollpatsch. Der Bettler, der Straßenverkäufer, der Hilfsarbeiter – sie alle hatten Erfahrung mit dem Herumstreunen und wurden mir zu nächtlichen Lehrmeistern; sie kannten die Straßen und brachten mir bei, mich auf ihnen zu bewegen und Vergnügen dabei zu empfinden. In meiner Vorstellung war ich ein jamaikanischer Tom Sawyer, wenn ich die Straße entlangschlenderte und tief hängende Mangos pflückte, an die ich vom Gehsteig rankam, oder bei einer Straßenparty dabei war, auf der sich ein paar Typen mit Hi-Fi-Anlagen bekriegten und einen Wolkenkratzer aus Bassboxen aufgetürmt hatten. Diese Straßen machten mir keine Angst. Sie waren entweder friedlich oder voller Abenteuer. Ich schloss mich einer Gruppe fröhlicher Wandersleute an, die gerade auch den letzten Bus verpasst hatten, und wir liefen einfach weiter, hielten den Daumen raus, um etwas näher nach Hause zu kommen, und machten Witze, während ein Auto nach dem anderen an uns vorbeisauste. Oder ich geriet in tagtraumhafte Zustände, fast so wie Walter Mitty, wenn meine jugendliche Fantasie mich mit immer neuen Zukunftsvisionen beschenkte. Die Straßen boten mir Sicherheit: Hier konnte ich sein, wie ich war, ohne wie zu Hause Prügel zu fürchten. Das Gehen wurde mir zum regelmäßigen, vertrauten Tun, der Nachhauseweg zu meinem Zuhause.

      Die Straßen hatten ihre eigenen Regeln, und es reizte mich sehr, sie auch zu beherrschen. Mit der Zeit bekam ich einen Blick für lauernde Gefahren und versteckte Freuden und war stolz, vielsagende Details zu erkennen, die meinen Altersgenossen entgingen. Kingston mit all seinen kulturellen, politischen und sozialen Ereignissen wurde für mich ein komplexer, oft bizarrer Stadtplan, als dessen Nachtkartograf ich mich berufen fühlte. Ich entwickelte Kunstfertigkeit darin, bedrohlichen Schritten auszuweichen und auf freundliche Gangarten, die nette Plauderei verhießen, zuzusteuern. Ich sah fast nur Männer. Eine einsame Frau, die mitten in der Nacht durch die Stadt ging, war so ungewöhnlich wie ein Yeti; ein Mondscheinspaziergang war für sie zu gefährlich. Manchmal, wenn ich nachts von den Hängen über Kingston hinunterstieg, über Jamaikas tiefe soziale Gräben hinweg, schien es mir, die Stadt sei auf »Pause« geschaltet worden oder stecke in einer extrem langsamen Zeitlupe fest. Mit schnellem Schritt ging ich an den Villen hoch über der Stadt vorbei, die herab auf diesen Teppich aus Lichttupfen blickten, über den sich jetzt ein Segel aus Sternen spannte, schlenderte entlang der Mittelklassesiedlungen hinter ihren hohen, stacheldrahtgekrönten Mauern und zog im Zickzack durch die dicht gedrängten Viertel aus Blech- und Holzhütten, die sich aneinanderschmiegten wie Limbotänzer. Während meines Abstiegs kam das Leben auf den Straßen in Fahrt – zumindest auf den meisten; in manchen armen Vierteln gab es brutale Schießereien gleich neben gespenstisch leeren Straßen, wie im Western. Die musste ich umgehen, selbst um Zwölf Uhr mittags.

      Mit zehn hatte ich damit begonnen, nach Einbruch der Dunkelheit draußen herumzulaufen. Mit dreizehn war ich selten vor Mitternacht zu Hause und lieferte mir in manchen Nächten ein Wettrennen gegen die Morgendämmerung. Oft beschwerte sich meine Mutter: »Mek yuh love street suh? Yuh born a hospital; you neva born a street.« (»Warum liebst du die Straße so? Bist im Krankenhaus geboren; bist nicht auf der Straße geboren.«)

      1996 verließ ich Jamaika und ging fürs College nach New Orleans, eine Stadt, von der ich gehört hatte, sie sei »die nördlichste Stadt der Karibik«. Ich wollte entdecken, was an ihr karibisch und was amerikanisch war – natürlich zu Fuß. Stattliche Villen an eichengesäumten Straßen, auf denen die Trambahnen vorbeirumpelten, und bunt bemalte Häuser, die ganzen Blocks festlichen Glanz gaben; Menschen in prächtigen Kostümen, die mitten auf der Straße zu funkigen Brassbands tanzten; Gerichte – und Aromen – in denen sich die kulinarische Traditionen aus Afrika, Europa, Asien und Südamerika vermischten; ein Nebeneinander alter und neuer, befremdlicher und vertrauter Welten: Wer wollte all das nicht erkunden?

      An meinem ersten Tag ging ich gleich ein paar Stunden durch die Stadt, um ein Gefühl für sie zu bekommen und um Dinge zu kaufen, die meinen Gefängnisbunker von Wohnheimzimmer etwas gemütlicher machen konnten. Als einige Uni-Mitarbeiter von meinem Plan erfuhren, ermahnten sie mich, nur in Viertel zu gehen, die Touristen und Erstsemester-Eltern als sicher empfohlen wurden. Sie kamen mir mit Statistiken zur Kriminalitätsrate von New Orleans. Doch die Kriminalitätsrate von Kingston ließ New Orleans fast harmlos erscheinen, sodass ich entschied, die wohlgemeinten Warnungen zu ignorieren. Eine Stadt wartete darauf, entdeckt zu werden, und dabei sollten mir keine lästigen Fakten im Weg stehen. Die amerikanischen Verbrecher können denen in Kingston nicht das Wasser reichen, dachte ich. Die sind keine echte Bedrohung für mich.

      Allerdings hatte mir niemand gesagt, dass ich es sein würde, den man hier als Bedrohung ansah.

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