Der Fälscher. Günter Pelzl
an Wasser, die wir zum Löschen verwendeten, ging über die zum Löschen erforderliche weit hinaus, und er stand schließlich wie ein begossener Pudel vor uns. Der Kittel war hinüber und sein Hemd auch. Nur sein Unterhemd hatte ihn vor schweren Brandwunden bewahrt. Das Hemd aus Dederon – das war die DDR-Variante von Perlon – war geschmolzen und hatte sich fest mit dem Unterhemd verbunden. Seine Mutter schnitt später das verbrannte Stück heraus und ersetzte es durch grauen Stoff. Gewissermaßen blieb nur ein Vorhemd übrig, das er seelenruhig weiterhin trug.
1966 war sozusagen ein historischer Wendepunkt in der Nachkriegsgeschichte der Jenenser Universität. Studenten gründeten nach dem Kasseturm in Weimar den zweiten Studentenklub der DDR. Politisch korrekt waren es FDJ-Studenten, und der Klub hieß dann auch FDJ-Studentenklub Rosenkeller oder einfacher: Keller beziehungsweise Rose. Es war tatsächlich ein Keller: der alte Weinkeller der ehrwürdigen Gaststätte Zur Rose, die sich schon seit dem 16. Jahrhundert im Besitz der Universität befand und jetzt als Professorenkasino diente.
Zum fünfzigsten Jahrestag des Kellers versuchte ein zugereister Rektor der Universität den Anteil der FDJ und der Leitung der Universität, einschließlich der Parteileitung der SED, herunterzuspielen, aber die meisten Festgäste wussten es besser und nahmen ihn nicht so recht ernst. Ohne die Erlaubnis staatlicher Stellen hätte es diesen Klub nicht gegeben. Das Geld allein, das die Universität und die FDJ bereitstellten, machte es auch nicht, wenn man kein Material hatte. Eigeninitiative und Findigkeit und natürlich unzählige freiwillige Stunden waren notwendig. Von den Aktivisten der ersten Stunde machten einige nach ihrem Studium bemerkenswerte Karrieren: Einer wurde Parteisekretär an der Universität, ein anderer Thüringer Landesbischof, ein dritter verteidigte als Rechtsanwalt nach der Wende die von der BRD-Justiz angeklagte DDR-Obrigkeit.
In den Gründungsjahren des Kellers und lange darüber hinaus genossen die jeweiligen Rektoren die Hochachtung aller Klubmitglieder, weil sie dem Klub immer gewogen waren. Prof. Dr. Dr. Drefahl, ein Chemiker, bekam für seinen persönlichen Anteil an der Gründung des Klubs einen gedrechselten Ehrensessel in einer speziellen Nische. Auf einem Schild darüber stand in respektloser Zuneigung: Drefahl’n sei Stuhl. Er nahm oft die Gelegenheit wahr, sich in diesen Stuhl zu setzen und mit den Studenten zu sprechen. Als der Mediziner Prof. Dr. Franz Bolck ihm auf dem Rektorposten folgte, wurde nur das Schild ausgetauscht: Ab nu’ Bolck’n seiner.
Genau dieser Studentenklub hatte es mir von Anfang an angetan. Bereits nach kurzer Zeit wurde ich in die Barmannschaft der Chemiker aufgenommen. Von meinem Zuhause hatte ich knappe fünf Minuten Fußweg bis zum Keller. Das erleichterte es beträchtlich, dort Stammgast zu werden. Noch wichtiger war diese kurze Strecke für den oft späten Heimweg im angeheiterten Zustand.
Es existierten mehrere Mannschaften, die einzelnen Fachrichtungen zugeordnet waren und aus fünf bis sechs Studenten und Studentinnen bestanden. Die Landwirte, die Chemiker, die Juristen und die Sportler hatten eine eigene Mannschaft. Eine Woche im Monat von Dienstag bis Sonnabend hatte jede Mannschaft Dienst und war für den kompletten Betrieb zuständig. Die Einnahmen wurden bei der Leitung der FDJ abgerechnet, die für den Klub ein separates Konto führte. Es gab einen symbolischen Stundenlohn. Das Trinkgeld konnten wir behalten, was sich bald als willkommene Aufstockung des Stipendiums erwies.
Wir hatten den Status einer Betriebsgaststätte und damit keine Polizeistunde. Das hatte einen unbestreitbaren Vorteil: Wir konnten den Klub so lange geöffnet halten, wie wir wollten, und – was in jeder anderen Gaststätte sonst üblich war – es kam keine Streife der Volkspolizei oder der Nationalen Volksarmee (NVA) zur Kontrolle der Gäste vorbei. Zutritt hatten unter anderem deshalb nur Studenten und Uni-Angehörige beziehungsweise geladene Gäste mit ihrem jeweiligen Partner. Ausnahmen waren natürlich immer möglich.
Soldaten, auch sowjetische, durften den Klub nicht betreten, denn dann hätte man auch den jeweiligen Armeestreifen den Zutritt gestatten müssen. Das war allerdings nicht unproblematisch. Der Chef der Volkspolizei drohte uns einmal nach einer großen Prügelei, die sich auf der Johannisstraße vor dem Rosenkeller fortgesetzt hatte, dieses Privileg zu streichen, sollten wir jemals die Polizei in unseren Klub zu Hilfe rufen müssen. Die Warnung verstanden wir unverzüglich und lösten unsere Probleme immer ohne Polizei. Den Krach, den wir unten in unseren Kellerräumen machten, konnte sowieso oben keiner hören.
Als einmal ein leicht angetrunkener sowjetischer Major in den Klub wollte, versuchte ich, ihm zu erklären, warum das nicht möglich sei. Er wurde wütend und beschimpfte mich als Faschisten. Ich ließ ihn trotzdem nicht hinein, obwohl mir mulmig wurde, denn er war bewaffnet. Schließlich trollte er sich krakeelend von dannen.
Jeden Sonnabend war Tanz. Wir achteten beim Kartenverkauf streng auf ein ausgewogenes Verhältnis von Mädchen und Jungen. Solotänzer waren ausgesprochen selten. Einen hatten wir aber doch: Er war Theologiestudent, hatte rote Haare und einen Bart wie Wallenstein. Er kam öfter zum Tanz. Seine Begleiterin war die Frau eines Mediziners, der zu Hause lieber mit der elektrischen Eisenbahn spielte. Die Tanzeinlagen der beiden waren legendär, und man räumte ihnen auf der ziemlich engen Tanzfläche freiwillig Platz ein und schaute zu.
Es spielten die besten Bands der DDR zu für uns erschwinglichen Preisen, da wir immer unter Geldnot litten. Der Eintritt kostete selten mehr als eine Mark, da kam bei maximal zweihundert Gästen nicht viel zusammen. Trotzdem waren wir eine gute Adresse. Unsere Hausband war die schon erwähnte Band Tutti. Die spielten auch dann noch, wenn ihnen ein trunkener Student einen halben Liter Bier ins Saxophon goss oder sie selbst mehr getrunken hatten, als für ihre Musik notwendig war.
Der Bierkonsum im Klub war recht hoch, an manchen Abenden schenkten wir mehr als zehn Fässer Bier aus, das waren rund fünfhundert Liter. Als uns einmal kurz vor Mitternacht das Bier ausgegangen war, wurde ich beauftragt, ein neues Fass zu besorgen. Zu diesem Zweck hatten wir mit dem FDGB-Haus, einer Gaststätte, die nur wenige Hundert Meter von uns entfernt war, eine stille Vereinbarung, dass wir uns bei Bedarf ein Fass von ihnen holen könnten. Es klappte, und ich machte mich mit meinem Hundert-Liter-Fass auf den Rückweg. Da ich es natürlich nicht tragen konnte, musste ich es rollen. Um die Uhrzeit war in Jena kein Mensch mehr auf der Straße, also beschloss ich, das Fass quer über die Kreuzung zu rollen. Je kürzer der Weg, je geringer war die Gefahr, dass der Korken dem Druck nicht standhielt. Dummerweise lief ich einem Volkspolizisten direkt in die Arme. Mitten auf der Kreuzung hielt er mir einen dämlichen Vortrag über die Einhaltung von Verkehrsregeln auch auf leeren Straßen. Offensichtlich ärgerte er sich darüber, dass er bei Nacht hier herumlaufen musste. Den Wettstreit »Logik gegen Vorschrift« verlor ich. Als Trostpreis bekam ich eine Ordnungsstrafe über 5 Mark »wegen Bierfassrollens auf der Straße« – so der denkwürdige Text auf der Quittung. Gehorsam rollte ich das Fass zurück auf den Gehsteig und ordnungsgemäß über die Fußgängerüberwege. Ich hatte gerade die Tür zur Rose erreicht, als das Fass hochging. Einhundert Liter Bier verflossen im Rinnstein.
In diesen Jahren war Jena neben Berlin und Dresden eine der Jazz-Hochburgen in der DDR. Das hing vielleicht mit dem legendären Auftritt von Louis Armstrong in Berlin zusammen. Jena hatte aber mit den beliebten Jenaer Oldtimers und den Jenaer Dixieland Stompers zwei beliebte Jazz-Formationen, die im Studentenklub häufig zu Gast waren. Auch im Jenaer Volkshaus, dem größten Saal der Stadt, fanden Jazz-Konzerte statt. So entstand die Idee, den Keller für Jazz-Sessions zu nutzen.
Wir waren natürlich nicht in der Lage, die großen Jazzer selbst einzuladen. Aber vielleicht konnte man sie mit der Örtlichkeit beeindrucken? Mindestens zweimal gelang uns das. Wir schlichen uns in der Pause eines Konzerts von Kenny Ball im Volkshaus hinter die Bühne und machten den Musikern das Angebot, nach diesem Konzert bei uns im Keller weiterzujazzen. Bier und belegte Brötchen waren die Gage. Irgendeiner musste gepetzt haben, aber bereits um siebzehn Uhr sammelten sich die ersten Interessenten vor der Keller-Tür. Es war schon nach elf, als die Musiker eintrafen. Jeder, der in Jena Jazz machte, war erschienen und hatte auch ein Instrument dabei. Es war eine tolle Veranstaltung, die mindestens bis früh um drei ging. Ähnliches gelang uns dann noch einmal mit der Dutch Swing College Band aus Holland. Dann machte uns die Konzert- und Gastspieldirektion Gera einen Strich durch die Rechnung. Eigentlich hatten wir vor, mit ihnen einen Deal zu vereinbaren, um den illegalen Anstrich unserer Sessions zu vermeiden. Sie ließen sich aber darauf nicht ein. Wir wurden