Die Hummerzange. Hansjörg Schertenleib

Die Hummerzange - Hansjörg Schertenleib


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Tucker blätterte in den Workamper News, dem Magazin für Menschen, die in Wohnmobilen lebten und auf der Suche nach Arbeit durchs ganze Land fuhren. Ihre vorletzte Stelle im September bei der American Sugar Company in Minnesota hatte sie auf der Website der Workamper News gefunden; für einen Stundenlohn von zwölf Dollar plus den freien Stellplatz für ihren Camper mit Strom- sowie Wasseranschluss hatte sie Zwölf-Stunden-Schichten geschoben. Am Ende ihres Einsatzes war sie kaum mehr fähig gewesen, aus eigenen Kräften aus dem Bett zu steigen. Auf derselben Website hatte sie erfahren, dass die Bestimmungen für eine Einbürgerung, auf die man sogar als Arbeitsnomade angewiesen war, in South Dakota lockerer waren und dass man in diesem Bundesstaat auch keine Einkommensteuer zahlte. Sie hatte eine Nacht in einem Motel in South Dakota verbracht, sich bei einem Postnachsendedienst registriert und beide Quittungen dem Department of Public Safety vorgelegt; damit war ihr Wohnmobil offiziell in South Dakota angemeldet, wo sie auch ihren Führerschein erneuert hatte.

      Sie faltete die Workamper News zusammen und legte sie in die Schublade ihres Tisches. Sie hatte nicht das Bedürfnis, durch die Zeitung an ihre unsichere Arbeitssituation erinnert zu werden. Im Dezember würde sie bei Amazon arbeiten, danach folgten die sorglosen Wochen in Florida, in denen sie Zeit genug hatte, sich um Arbeitsstellen im neuen Jahr zu bemühen. Ihre Königspython Slash lag träge im Terrarium; sie hatte sie gestern mit einem Kaninchen gefüttert, das sie nur halb aufgetaut hatte, weil sie die warmen Körper der Warmblüter anwiderten. Sie schob Use Your Illusion II von Guns N’ Roses in den CD-Player und sprang zum elften Titel »Estranged«, einem ihrer Lieblingssongs der Band.

      Im Haus ihres Sohnes J war sie nicht mehr gewesen, seit sie sich vor ein paar Nächten heftig gestritten hatten. J hatte seinen Truck rückwärts ein Stück in den Wald hineingefahren, der an sein Grundstück grenzte, und sie schimpfend vertrieben, als sie aus ihrem Wohnmobil stieg und wissen wollte, was er da mitten in der Nacht trieb. Den glatzköpfigen Kerl, der ihren Sohn begleitete, hatte sie bei einer seiner wüsten Partys gesehen, bei der nie Frauen dabei waren. Weshalb hatte sie nicht den Mut, J zu fragen, ob er schwul war? Nach ihrem Streit war er zwei Tage nicht nach Hause gekommen, und sie hatte sich gefragt, ob er sich aus dem Staub gemacht hatte, da war er eines Morgens wieder aufgetaucht und hatte ihr eine Tüte mit Toast, Milch, Bier und Chips vor die Tür ihres Campers gestellt.

      Sie hörte sich »Estranged« noch einmal an, stoppte die CD und wechselte auf einen Radiosender, der ausschließlich alte Rockmusik spielte. Die Stimme des Sprechers erinnerte sie an den Mann, mit dem sie letztes Jahr bei der Zuckerrübenernte in Montana in derselben Pflückbrigade gearbeitet hatte. Eines Abends hatten sie gemeinsam Burger gegrillt, den widerlich süßen Geruch der Zuckerrüben in der Nase, zusammen eine Flasche Southern Comfort getrunken und sich in seinem Wohnmobil geliebt. Zwei Tage später war der Mann abgereist, während sie arbeitete. Wie alle anderen hatte sie ihn Healer genannt, da gemunkelt wurde, er sei ausgebildeter Masseur; seinen richtigen Namen hatte sie nie erfahren.

      Seit einigen Tagen berichtete der Rocksender von einem Mädchen, das vor dem Haus seiner Großeltern in Owls Head verschwunden war. Der Sender rief zu einer weiteren gemeinsamen Suchaktion auf, zu der man sich vor dem ehemaligen Grocery Store in Owls Head versammelte. Warum nahm sie nicht teil? Sie würde Leute kennenlernen, käme an die frische Luft und aus ihrem stickigen Camper, in dem sich ihre Gedanken im Kreis drehten, so sehr sie sich auch dagegen wehrte. Ein Aufruf der Mutter des verschwundenen Mädchens wurde eingespielt, ihre Stimme klang erstaunlich sicher, und Leah versuchte, sich das Gesicht der Frau vorzustellen und wie sie sich fühlte. Saß ihr Mann neben ihr, als die Aufnahme gemacht wurde? Offensichtlich gab es keinerlei Spuren, die Polizei stand vor einem Rätsel. Jane Libby. Der Name des Mädchens klang vertraut, so oft hatte sie ihn mittlerweile gehört. Sie musste sich eine Zeitung besorgen, damit sie erfuhr, wie das Mädchen aussah. Was es getragen hatte, als es verschwand, wusste sie, so oft war es im Radio wiederholt worden. Das Geräusch eines Automotors riss Leah aus ihren Gedanken. Sie erhob sich, machte das Radio aus, trat ans Fenster über dem Spülbecken, in dem sich Gläser und Tassen stapelten, und schob vorsichtig die Gardine zur Seite.

      J fuhr seinen Truck rückwärts dicht an ihren Camper heran, als wolle er nachprüfen, ob sie da war; das tiefe Blubbern des PS-starken Motors ließ ihr Küchenfensterchen vibrieren, und sie ertappte sich dabei, den Atem anzuhalten. Fürchtete sie sich vor ihrem Sohn? Der Mann, der neben J saß, trug eine Mütze und hatte eine Zigarette im Mund, die Ladefläche des Trucks war mit einer straff gespannten Plane abgedeckt.

      Schließlich setzte sich Js schwerer Wagen langsam in Bewegung und fuhr vom Grundstück. Bevor Leah die Gardine zufallen ließ, fiel ihr auf, dass die amerikanische Fahne auf der Veranda ihres Sohnes verkehrt am Mast hing. Dass dies »Nationale Katastrophe« bedeutete, wusste sie.

      9 Wertlose Halskettchen

      Eine Weile beherrschte das verschwundene Mädchen die Medien, dann wurden andere Dinge wichtiger: Corinna las in der Courier Gazette von einem Tanklastwagen, der auf der Interstate 95 gekippt war und Feuer gefangen hatte, sah im Fernsehen den Beitrag über ein Crystal-Meth-Labor in Bangor, das in die Luft geflogen war, ohne dass die zwei Drogenköche ums Leben gekommen waren. Darüber wurde geredet, Jane Libby war nicht länger das Thema, auf das man automatisch zu sprechen kam, ohne dass man es eigentlich wollte; ganz vergessen wurde sie zwar nicht, doch der Alltag mit seinen Sorgen, Nöten und Freuden drängte sie allmählich in den Hintergrund. Nur nachts dachte Corinna manchmal an Jane, wenn sie nicht einschlafen konnte und sich vorzustellen versuchte, was wohl aus ihr geworden war. Auch der erschossene Lagerangestellte Rick Cole von Norwood Lobster fiel ihr selten ein, obwohl der Mord nicht aufgeklärt worden war.

      Sie blieb mehrere Tage und Nächte bei Jake, las, hörte Musik, faulenzte, kochte, während er die Mandoline fertigbaute und sich mit dem Korpus einer Gitarre beschäftige. Dass sie beinahe ertrunken war, behielt sie für sich, genauso die Schmerzen in ihrer Schulter; Geheimnisse dieser Art gehörten ihrer Meinung nach zu einer funktionierenden Beziehung. Sie sahen Natalie Merchant, die ehemalige Sängerin der 10,000 Maniacs im Strand Theatre in Rockland, stöberten einen langen verregneten Nachmittag im Bella Books in Belfast in gebrauchten Büchern und teilten sich danach im Delvino’s Grill & Pasta House, keine Fußminute entfernt, Muscheln und Lachsravioli.

      Sie traf sich mit Maggie zum Kaffee im Miranda in Rockland und führte ein langes Skype-Gespräch mit ihrem Sohn Thomas und seiner Freundin Charlotte. Sie taufte die Katze auf den Namen Teaser und zeigte ihr die Zeichnung der Feuerkatze auf dem Cover der Langspielplatte von Cat Stevens.

      Mitte Oktober schlug das Wetter nach einem außergewöhnlich warmen Wochenende um. Die Tage blieben klar, wurden jedoch deutlich kürzer, die Farben der Laubbäume erloschen, die Nächte waren kalt, im Radio wurde vor Frost gewarnt, Schnee lag in der Luft. Corinna machte Haus und Garten winterfest, mähte das Gras, band empfindliche Pflanzen zusammen und packte sie in Schutzfolie, stellte hölzerne Schutzgauben gegen Schnee und Schmelzwasser vor die drei Kellerfenster, drehte das Wasser für den Garten und die Garage ab und hängte den Wärmequilt ins Fenster des Windfangs.

      An ihre frühere Arbeit als Kriminalpolizistin dachte sie nie, fast nie. Die Zeit verging langsam, doch sie verging, und sie war zufrieden, manchmal gar glücklich, selbst wenn sie alleine war.

      Am 19. Oktober lag sie nach dem Abendessen dösend auf dem Sofa, die Katze Teaser schlief eingerollt neben ihr, Jake traf Freunde in Camden, als ihr Smartphone läutete. Erst wollte sie den Anruf mit unterdrückter Nummer ignorieren, aber die Neugier war stärker. Sie stand auf, trat an die Glastür zum Deck und drückte auf Annehmen.

      »Hast du dein Handy wieder mal verlegt?«

      Betsys Stimme klang hohl und gedämpft, als rede sie durch ein Tuch, im Hintergrund war das Krächzen ihres Papageis Doktor John zu hören.

      »Ich nehm keine Anrufe mit unterdrückten Nummern entgegen.«

      »Doch, tust du. Wie geht es dir?«

      Sie unterhielten sich über das Wetter, den bevorstehenden Winter, ob es nicht doch klüger wäre, Betsys Riverside Café an einem oder vielleicht gar zwei weiteren Tagen pro Woche offen zu halten und ob Corinna sich vorstellen könne, an diesen Tagen


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