Schlusslichter. Georges Simenon

Schlusslichter - Georges  Simenon


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      Georges Simenon

      Schlusslichter

      Die großen Romane – Band 79

      Aus dem Französischen von Stefanie Weiss

      Mit einem Nachwort von Anita Brookner

      Hoffmann und Campe

      1

      Er nannte es »den Tunnel betreten«, ein ganz persönlicher Ausdruck, den er niemand anderem, schon gar nicht seiner Frau gegenüber verwendete. Er wusste genau, was Im-Tunnel-Sein bedeuten sollte und worin es bestand. Sobald er jedoch drin war, wollte er es eigenartigerweise nicht zugeben, außer für ein paar Sekunden zwischendurch, und immer zu spät. Hinterher hatte er oft vergeblich versucht, den genauen Moment zu bestimmen, in dem er den Tunnel betrat.

      Heute zum Beispiel, am Freitag vor dem Labor Day, war er ausgeglichen und in bester Verfassung ins Wochenende aufgebrochen. Das war früher schon vorgekommen. Es war auch vorgekommen, dass das Wochenende dann trotzdem ziemlich unerfreulich endete. Aber es bestand kein Grund, dass es so kommen musste.

      Er hatte um fünf Uhr sein Büro in der Madison Avenue verlassen. Drei Minuten später traf er sich mit seiner Frau in ihrem Stammlokal, einer kleinen Bar in der 45. Straße. Sie war vor ihm da gewesen und hatte einen Martini bestellt, ohne auf ihn zu warten. In dem schummrig beleuchteten Raum saßen nur ein paar Stammgäste, von denen er aber keinen näher kannte. An diesem Freitag hatten es die Leute besonders eilig, ins Auto oder in den Zug zu steigen, um ans Meer oder aufs Land zu fahren. In einer Stunde würde New York leergefegt sein, dann hockten in den weniger belebten Vierteln nur noch vereinzelte Menschen vor ihrer Haustür, die Männer in Hemdsärmeln und die Frauen mit nackten Beinen.

      Es regnete noch nicht. Seit drei Tagen war der Himmel schon vormittags verhangen und die Luft so feucht, dass man wie durch eine trübe Fensterscheibe in die blassgelbe Sonne sehen konnte. Jetzt sollte es laut Wettervorhersage örtliche Gewitter und eine kühlere Nacht geben.

      »Müde?«

      »Es geht.«

      Im Sommer, wenn die Kinder im Feriencamp waren, trafen sie sich jeden Abend um die gleiche Zeit, immer auf denselben Barhockern. Louis blinzelte ihnen zur Begrüßung lediglich zu und servierte ihnen den Drink, ohne ihre Bestellung abzuwarten. Sie hatten nicht das Bedürfnis, sofort miteinander zu reden. Sie boten einander eine Zigarette an. Manchmal schob Nancy die Schale mit Erdnüssen zu ihm hin, ein anderes Mal reichte er ihr die Oliven, und sie blickten zerstreut auf das kleine fahle Rechteck des Fernsehers, der rechts oben hinter der Bar angebracht war. Bilder folgten aufeinander. Eine Stimme kommentierte ein Baseballspiel, oder eine Frau sang. Es hatte keine Bedeutung.

      »Du kannst noch duschen, bevor wir losfahren.«

      Das war ihre Art, sich um ihn zu kümmern. Sie vergaß nie, ihn zu fragen, ob er müde sei, und sie bedachte ihn dabei mit einem Blick, wie man ihn einem Kind zuwirft, das eine Krankheit ausbrütet oder von zarter Gesundheit ist. Das war ihm unangenehm. Er wusste, dass er um diese Tageszeit nicht gut aussah. Das Hemd klebte ihm am Körper, und die nachwachsenden Bartstoppeln standen dunkel auf seiner verschwitzten Haut. Bestimmt hatte sie auch schon die Schweißränder unter seinen Achseln bemerkt.

      Das war umso ärgerlicher, als sie selbst so frisch war wie am Morgen, wenn sie das Haus verließ, ohne eine Knitterfalte in ihrem leicht gestärkten Sommerkostüm. Niemand wäre bei ihrem Anblick auf den Gedanken gekommen, dass sie den ganzen Tag im Büro verbracht hatte. Man hätte sie eher für eine Frau halten können, die sich um vier Uhr nachmittags langsam fertigmacht und beim abendlichen Aperitif ihren ersten Auftritt hat.

      Louis fragte:

      »Sie holen die Kinder ab?«

      Steve nickte.

      »In New Hampshire?«

      »In Maine.«

      Wie viele Eltern mochten sich wohl in New York und Umgebung heute Abend auf den Weg machen, um ihre Kinder in einem Feriencamp im Norden abzuholen? Hunderttausend? Zweihunderttausend? Wahrscheinlich mehr. Die Zahl musste irgendwo in der Zeitung stehen. Hinzu kamen noch die Kinder, die den Sommer bei der Großmutter oder einer Tante verbracht hatten, auf dem Land oder am Meer. Und überall spielte sich das Gleiche ab, von Küste zu Küste, von der kanadischen Grenze bis zur mexikanischen.

      Auf dem Bildschirm erschien ein Mann ohne Jackett. Er trug eine dicke Hornbrille, die ihn wie aufgeschreckt aussehen ließ. Mit finsterer Überzeugung kündigte er an:

       »Der ›National Safety Council‹ rechnet für heute Abend mit vierzig bis fünfundvierzig Millionen Autofahrern auf den Straßen der Vereinigten Staaten und schätzt, dass zwischen heute und Montagabend vierhundertfünfunddreißig Menschen durch Verkehrsunfälle ums Leben kommen.«

      Und düster schloss er:

       »Geben Sie acht, dass Sie nicht zu den Opfern gehören. Fahren Sie vorsichtig.«

      Dann folgte eine Bierreklame.

      Warum gerade vierhundertfünfunddreißig und nicht vierhundertdreißig oder vierhundertvierzig? Schätzungen dieser Art würden die ganze Nacht über durchgegeben werden, auch morgen und übermorgen ins reguläre Programm eingeblendet und am Ende auf ihre Genauigkeit und Treffsicherheit überprüft werden. Steve erinnerte sich noch an die Stimme des Radiosprechers, als sie letztes Jahr am Sonntagabend mit den Kindern von Maine zurückfuhren:

       »Bisher ist die Zahl der Toten weit unter den Schätzungen der Experten geblieben, trotz der Flugzeugkollision über dem Flughafen von Washington, die zweiunddreißig Menschenleben gekostet hat. Es wird jedoch zur Vorsicht aufgerufen: Das Wochenende ist noch nicht vorbei!«

      »Also ich«, sagte Louis, der gerade frische Erdnüsse brachte und immer nur halblaut redete, »ich hab diesmal meine Frau und den Kleinen zu meiner Schwiegermutter in die Nähe von Quebec geschickt. Sie kommen morgen mit dem Zug zurück.«

      Hatte Steve die Absicht gehabt, einen zweiten Martini zu bestellen? Meist tranken Nancy und er nur einen, außer wenn sie vor dem Theater in der Stadt zu Abend aßen.

      Vielleicht hatte er Lust gehabt, ja. Nicht unbedingt, um sich in Form zu bringen, auch nicht wegen der Hitze. Nur einfach so. Oder eher, weil dies kein gewöhnliches Wochenende war. Nach ihrer Rückkehr aus Maine würde es vorbei sein mit dem Sommer und den Ferien. Dann würde gleich das Winterleben beginnen, mit Tagen, die allmählich kürzer wurden, und den Kindern, derentwegen sie nach Büroschluss immer gleich nach Hause mussten. Ein viel komplizierteres Leben ohne die Möglichkeit, sich ab und zu gehenzulassen.

      War das nicht ein Glas wert? Er hatte nichts gesagt, Louis nicht herangewinkt oder ihm sonst ein Zeichen gegeben. Nancy hatte ihn trotzdem durchschaut und sich von ihrem Barhocker heruntergeschwungen.

      »Zahlst du? Es ist Zeit, dass wir gehen.«

      Er war nicht eingeschnappt gewesen. Vielleicht ein wenig enttäuscht oder verärgert. Kränkend war eigentlich nur, dass Louis genau gemerkt hatte, was vor sich ging.

      Sie mussten zwei Straßen weiter zu dem Parkplatz, an dem sie tagsüber ihren Wagen stehenließen. Nachdem sie die Third Avenue hinter sich hatten, wirkte die Stadt schon sonntäglich ruhig.

      »Soll ich fahren?«, hatte Nancy vorgeschlagen.

      Er verneinte, setzte sich ans Steuer und fuhr in Richtung Queensboro Bridge, wo die Autos im Schritttempo hintereinander herfuhren. Zweihundert Meter weiter vorn lag schon der erste umgestürzte Wagen am Straßenrand, eine Frau saß am Boden, Leute standen um sie herum, und ein Polizist versuchte, bis zum Eintreffen des Krankenwagens den Verkehr auf der Straße in Fluss zu halten.

      »Es hat keinen Zweck, zu früh loszufahren«, sagte Nancy und kramte in ihrer Handtasche nach Zigaretten. »In ein, zwei Stunden ist der schlimmste Verkehr vorbei.«

      Als sie durch Brooklyn fuhren, liefen ein paar Wassertropfen über die Windschutzscheibe, aber noch blieb der angekündigte Regen aus.

      Er war guter


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