Ich rede von der Cholera. Heinrich Heine
Heinrich Heine
Ich rede von der Cholera
Ein Bericht aus Paris von 1832
Herausgegeben und mit einem Vorwort von Tim Jung
Hoffmann und Campe
Vorwort
»Die Gegenwart ist in diesem Augenblicke das Wichtigere, und das Thema, das sie mir zur Besprechung darbietet, ist von der Art, dass überhaupt jedes Weiterschreiben davon abhängt.«
Heinrich Heine in Paris im April 1832
Im Mai 1831 packte Heinrich Heine die Koffer, um sich im postrevolutionären Paris niederzulassen, dem politischen Brennpunkt seiner Zeit. Judenfeindliche Übergriffe, die herrschende Zensur und politische Anfeindungen hatten ihn dazu gebracht, Deutschland den Rücken zu kehren: »Da ich nun wirklich einer Aufheiterung bedurfte, und […] obendrein die preußischen Ketten im Winter sehr kalt sind und meiner Gesundheit nicht zuträglich sein konnten, so entschloss ich mich, nach Paris zu reisen.«[1]
Im Dezember 1831 wurde Heine Paris-Korrespondent für die in Augsburg ansässige Allgemeine Zeitung, die bedeutendste deutschsprachige Tageszeitung der damaligen Zeit. Dem Verleger des Blattes, Johann Friedrich Cotta, war mit dieser Ernennung ein Coup gelungen: »Ihre Feder weiß selbst aus Steinen Funken zu schlagen, die zur Flamme werden.«[2] Heine selbst wiederum hatte sich mit seinem Engagement nicht weniger vorgenommen als eine »Geschichtsschreibung der Gegenwart«; er erwartete »die großen Dinge … die noch nicht passiert sind. Sie werden aber passieren, und ich werde sie ruhig und unparteiisch beschreiben, wie es meines Amtes ist.«[3]
Die Cholera, die Paris im Frühjahr 1832 heimsuchte und von deren Ausbruch Heinrich Heine in der Allgemeinen Zeitung berichtete, war von Russland nach Europa getragen worden und bereits 1830 im Baltikum und in Polen aufgetreten. 1831 wütete sie in Deutschland und im Folgejahr auch in London und New York, wo im Juli 1832 täglich Dutzende Menschen an ihren Folgen starben. Allein in Paris fielen ihr im Jahr 1832 etwa 20000 Menschen zum Opfer (Heine selbst ging im Juni 1832 von 35000 Toten aus[4]), darunter auch der französische Ministerpräsident Casimir Périer, der sich bei einem Krankenhausbesuch mit der Cholera infizierte und ihr am 16. Mai des Jahres erlag.
Sobald es die ersten Toten gab, verließen die Lebenden, die es sich leisten konnten, die Stadt. Heinrich Heine blieb. Es lassen sich dafür drei Gründe finden, die drei verschiedene Gesichter Heines zeigen. So behauptet Heine in einem Brief an einen Freund kokett: »Es war nicht eigentlicher Mut, dass ich nicht ebenfalls von Paris entfloh, als der panische Schrecken einriss; ehrlich gesagt, ich war zu faul.«[5] Hier zeigt sich Heines typische Verweigerungshaltung gegenüber jeglichem Pathos. Grund Nummer zwei findet sich in einem Brief an Baron Cotta, in dem Heine schreibt, dass in Paris »ein sehr naher Verwandter von mir krank liegt. Sonst wäre ich aufs Land gezogen.«[6] Gemeint ist damit Heines Vetter Carl, der sich im April 1832 ebenfalls in Paris aufhielt. Hier zeigt sich Heines Mitgefühl, von dem im Weiteren noch die Rede sein wird. Grund Nummer drei schließlich offenbart sich in einem weiteren Brief an Cotta: »Seit einigen Tagen herrscht in Paris die grenzenloseste Bestürzung, der Cholera wegen; fast alle meine Bekannten sind abgereist. Ich würde auch fortgehen, wenn nicht bei der, durch die Cholera eingetretene Volksstimmung, die wichtigsten Dinge vorfallen könnten.«[7] Hier schließlich spricht der Journalist Heinrich Heine, der sich nicht nur verpflichtet fühlt, Bericht zu erstatten, sondern auch sofort erkennt, dass die Cholera weitreichende Folgen haben wird.
Auch wenn die Cholera als bakterielle Infektionskrankheit, die vorrangig auf verunreinigtes Trinkwasser zurückgeht, unter rein medizinischen Gesichtspunkten nicht mit der Corona-Pandemie vergleichbar ist, sind Heinrich Heines Beobachtungen zu den Auswirkungen eines unsichtbaren Krankheitserregers im Frühjahr 2020 frappierend aktuell:
Die anfängliche Sorglosigkeit, die schon bald folgende Verwirrung, die Zeit der ernsten Gesichter, der leeren Plätze und Straßen, das Hadern mit Todesfallzahlen und ihren Quellen und nicht zuletzt auch die sozialen Fragen: Heines wachem Auge entging in Zeiten der Cholera nichts, was die Welt nun, 189 Jahre später, mit Corona nicht erneut erfährt und – nur ungleich langsamer – erneut erkennt. Obendrein liefert uns Heine einen Rat ohne Verfallsdatum: »Angst ist bei Gefahren das Gefährlichste.«[8]
Schon zu Heines Zeiten ging die Pandemie mit der Verbreitung von Fake News einher. Was sich heute vor allem in den Sozialen Medien zusammenbraut, wurde im Paris des Jahres 1832 per Mundpropaganda verbreitet. So machte das Gerücht die Runde, dass das Volk gezielt vergiftet würde; in der Folge wurden zwei Menschen auf offener Straße ermordet, die ein weißes Pulver mit sich führten – ein vermeintliches Schutzmittel gegen die Cholera, wie sich herausstellte, nachdem die Unschuldigen bereits vom Mob zu Tode geprügelt worden waren.
Während Heine schonungslos von derartigen Grausamkeiten berichtet, scheint er selbst dem Leiden anderer gegenüber stellenweise eine irritierende Gleichgültigkeit an den Tag zu legen, wenn er etwa schreibt: »Ich wurde in dieser Arbeit viel gestört, zumeist durch das grauenhafte Schreien meines Nachbarn, welcher an der Cholera starb.«
Nicht wenige heutige Leserinnen und Leser werden Heine angesichts eines solchen Satzes für »empathielos« halten – was allerdings eine Fehleinschätzung wäre. Heine hatte großes Mitgefühl mit den Menschen und ihren Schicksalen. Damit diese Schicksale aber überhaupt wahrgenommen wurden, musste er sich zunächst die Aufmerksamkeit seiner Leserschaft sichern, der er mit Sätzen wie jenem zugleich jegliche Gleichgültigkeit austrieb.
Der vorliegende Band beinhaltet neben Heines eindrucksvollem, hochaktuellem Bericht auch das Faksimile des Originalartikels aus der Allgemeinen Zeitung, den der Hamburger Verleger Thomas Ganske für das Archiv des Hoffmann und Campe Verlags erworben hat. Heine nahm den Text später als »Artikel VI« in den Band Französische Zustände auf, der bei seinem Erscheinen 1832 eine publizistische Sensation war: Leserinnen und Leser waren begeistert, die Obrigkeit bestürzt.
Bis heute markieren Heines Berichte aus Paris eine Zäsur. Sie »sind ein Meilenstein der deutschen Literatur- und Pressegeschichte«[9], wie der Herausgeber und Heine-Experte Christian Liedtke schreibt: »Mit ihnen beginnt die Geschichte des modernen politischen Journalismus und des deutschen Feuilletons.«[10]
Tim Jung im April 2020
Ich rede von der Cholera
Ein Bericht aus Paris von 1832
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