Das Wetter vor 15 Jahren. Wolf Haas
Sie können es auswendig.
Wolf Haas Ich hab’s ziemlich oft probiert. Aber nach zwei Wochen hab ich’s eingesehen, dass das so nichts wird, und bin einfach auf gut Glück hinaufgefahren.
Literaturbeilage Hinauf? Von Östreich ins Ruhrgebiet fährt man doch runter!
Wolf Haas Bei uns geht das mehr nach der Landkarte. In den Norden fahren wir »hinauf«, auch wenn’s hinuntergeht.
Literaturbeilage Na gut, Sie sind also nach Essen »hinaufgefahren«.
Wolf Haas So weit bin ich an einem Tag überhaupt noch nie mit dem Auto gefahren. Aber ich kann’s wenigstens von der Steuer absetzen. Darum bin ich schon froh, dass die Hauptfigur meines Romans aus einer weit entfernten Gegend stammt.
Literaturbeilage Die langen Autofahrten haben ja auch in Vittorio Kowalskis Leben und Lieben eine wichtige Rolle gespielt. Warum lachen Sie? Über mein pathetisches »Leben und Lieben«?
Wolf Haas Entschuldigung, ich lache nicht über Sie. Sondern weil ich innerlich automatisch zum Dreifach-Jackpot aufgestockt habe: »Leben und Lieben und Leiden«.
Literaturbeilage Das passt doch auch. Gerade auf der Autobahn hat er als Kind viel gelitten.
Wolf Haas Das wusste ich da allerdings noch nicht. Für mich war die Fahrt ganz erträglich, ich musste sowieso mein neues Hörbuch Korrektur hören, und das mach ich im Auto am liebsten. Für ihn als Kind aber waren die langen Autofahrten ein Horror.
Literaturbeilage Ich finde, das sind mit die stärksten Stellen in Ihrem Roman. Diese quälend langen Urlaubsfahrten. Und wie sich eben für ein Kind die Zeit noch viel unendlicher und quälender dehnt als für einen Erwachsenen.
Wolf Haas Ich erinnere mich noch gut an seine Schilderungen. Wie er da Sommer für Sommer in den Urlaub gekarrt wurde. Das Auto vollgestopft bis auf den letzten Winkel. Und irgendwo auf der Rückbank zwischen Kühltaschen, Rucksäcken, Campingliegen der kleine Junge, der die Kilometer zählt.
Literaturbeilage Es ist würklich schrecklich, das zu lesen. Ich muss schon sagen, da wurden Erinnerungen wach!
Wolf Haas Haben Sie das auch gemacht? Kilometer runterzählen?
Literaturbeilage Das Zählen nicht. Aber diese Beklemmungen, diese unendlich langen Urlaubsfahrten in den Süden, daran kann ich mich noch gut erinnern. Und vorne die streitenden Eltern, genau wie Sie es bei den Kowalskis schildern. Der Blick auf die Hinterköpfe und schwitzenden Nacken der Eltern. Ich glaub, das ist ein kollektives Trauma einer ganzen Generation! Aber Kilometer runtergezählt wie Vittorio hab ich nicht unbedingt, also auf keinen Fall in dieser Besessenheit. Ich hab mich eher in Traumwelten geflüchtet.
Wolf Haas Jedes Kind entwickelt so seine eigene Überlebensstrategie. Bei ihm war’s eben das Zählen. Das Umrechnen der Kilometer in Stunden und Minuten. Im Lauf der Jahre sind seine Berechnungen so gut geworden, dass er oft schon auf der Höhe von Frankfurt die Ankunftszeit in Farmach auf zehn Minuten genau voraussagen konnte.
Literaturbeilage Wie heute in den Flugzeugen, wo einem die Computerbildschirme anzeigen: Noch fünf Stunden und 47 Minuten bis zur Landung auf dem »JFK«.
Wolf Haas Für mich war das natürlich sehr reizvoll. An sich gibt’s ja nichts Langweiligeres als so eine Urlaubsfahrt. Also für einen Romananfang ist das alles andere als ideal. Und durch das Runterzählen hat man dauernd das Gefühl, da kommt jetzt mal was. Und es kommt aber nichts! (lacht)
Literaturbeilage Man hat ja fast den Eindruck, dass er in der Hitze und in der quälenden Langeweile zu halluzinieren anfängt.
Wolf Haas Was meinen Sie jetzt?
Literaturbeilage Zum Beispiel die Luftmatratze hinten im Auto.
Wolf Haas Da wurde mir ja zum Teil vorgeworfen, ich hätte mich etwas zu sehr verkünstelt mit der Luftmatratze.
Literaturbeilage Ein Kritiker hat sogar gekalauert, Sie hätten diese Metapher etwas zu sehr aufgeblasen.
Wolf Haas Ja haha. Dabei ist’s gar keine Metapher.
Literaturbeilage Ich hatte beim Lesen schon etwas den Eindruck, hier spricht nicht mehr unbedingt Herr Kowalski, der bis hierher so schön beflissen und ernsthaft erzählt hat. Also wie die Familie Jahr für Jahr immer wieder dieselbe Strecke »runterfährt«. Immer wieder dieselben Stationen. Da leidet man ja würklich mit dem Kind mit! In der extremen Hitze! Aber bei der Luftmatratze wird’s vielleicht eine Spur too much.
Wolf Haas Darum geht’s doch! Ihm war es auch zu viel.
Literaturbeilage Aber man kriegt da beim Lesen das Gefühl, jetzt mischt sich der Autor ein und versucht, mir durch besonders kunstvolle Metaphorik zu vermitteln, wie eng und quälend es für den Jungen auf dem Rücksitz war. In den ersten Jahren war der doch noch ganz klein, die Wahrnehmung scheint ürgendwie zu raffiniert für einen kleinen Jungen.
Wolf Haas Ja sehen Sie, und genau das ist so ziemlich die einzige Stelle, die ich wortwörtlich von seinen Erzählungen übernommen habe. Es hat mir einfach so gut gefallen, wie erbittert er nach all den Jahren noch die Gepäckstücke aufgezählt hat, mit denen er seinen Platz in den verschiedenen Autos seines Vaters teilen musste. Also ganz am Anfang war das ja sogar noch ein alter VW Käfer, und dann ging’s herauf, den üblichen Weg eben, Opel Kadett, VW Golf und so weiter.
Literaturbeilage Die Automarken haben Sie aber gar nicht erwähnt.
Wolf Haas Da hab ich lang herumgeschissen. Es gab natürlich Rohversionen, wo ich das alles drinnen hatte. Dann hab ich das aber alles rausgestrichen. Ich wollte verhindern, dass es so ein modisches Marken-Archäologiebuch wird. Mir ist das unsympathisch, dieser Hang der jungen Leute, die schon als Dreißigjährige auf ihr bisschen »damals« zurückblicken, und »Weißt du noch, welche Mode damals war«, das ist doch lächerlich. Jedenfalls – wo war ich?
Literaturbeilage Luftmatratze.
Wolf Haas Ja, die Luftmatratzenstelle. Er hat mir eben erzählt, dass da seine zusammengepresste Luftmatratze ihren Stammplatz im Auto hatte, neben seinen Beinen, hinter die Rücklehne des Beifahrersitzes gestopft. Ich hab mich noch gewundert, warum er dabei das Gesicht so verzieht, als würde er gleich zu weinen anfangen. Aber das war eben der vorauseilende Gesichtsausdruck sozusagen, der sich erst erklärte, als er dann den bestialischen Gummigeruch der Luftmatratze beklagt hat. Damals hatten die noch keine Klimaanlage im Auto. Jetzt sag ich auch »damals«, sehen Sie, das wollte ich eben nicht im Buch haben, diese Retro-Sentimentalität, dieses ewige »damals«.
Literaturbeilage Keine Klimaanlage ist noch nicht unbedingt Retro-Kitsch.
Wolf Haas Klimaanlagen sind überhaupt so ein Thema für mich. Ich hab ja als Werbetexter für Mazda viel über Klimaanlagen geschrieben. Das ist mein Thema sozusagen. »Klimaanlage inklusive« war der große Hit damals.
Literaturbeilage »Damals«!
Wolf Haas Ja furchtbar! Jetzt fang ich auch schon so an. Jedenfalls war die Hitze im Auto schuld, dass die Luftmatratze fast geschmolzen ist –
Literaturbeilage Ich kann mir gut vorstellen, dass der Junge unter dem Gummigeruch litt. Aber »bestialischer Gummigestank«?
Wolf Haas Das waren seine Worte! Bestialischer Gummigestank! Und dieser zurückhaltende Herr Kowalski, das ist wahrlich niemand, der zu großen Worten greift, der sagt nicht »bestialisch«, wenn er nur meint »ein bisschen unangenehm«. Er muss wirklich gelitten haben unter dem Gestank. Ich könnte mir vorstellen, dass dieses Gummizeug in so einer kochenden Autozelle wirklich Dämpfe abgibt, die nicht ganz ungiftig sind.
Literaturbeilage Die Luftmatratze als solche ist natürlich auch so ein Gerät, das eine ganze Welt abruft.
Wolf Haas Ja eben. Das ist ein gefährliches Ding. Ich musste da dauernd streichen und mich einbremsen. Ich hab mich selber gewundert, wie aufdringlich die Dinger eigentlich sind. Allein dieser irre Gegensatz, was eine aufgepumpte Luftmatratze am See bedeutet, so herrlich, das Paddeln, die Sonne, das Wasser, die gute Luft, und was daraus wird, wenn sie einem im heißen, stinkenden Auto den Atem raubt.
Literaturbeilage