Irmas Enkel. Leandra Moor

Irmas Enkel - Leandra Moor


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       Leandra Moor

       Irmas Enkel

       Eine Geschichte, die von Heimat, Liebe und deren Verlust erzählt.

       Hinweis:

      Die teilweise abweichende Schreibweise in Dialogen und Briefen spiegelt Dialekte und Mundarten wider.

      Weitere Informationen zur Autorin und Meinungen zum Buch:

      aktualisierte 2. Auflage April 2020

      © August 2019 Leandra Moor

      Titelbild: © Leandra Moor

      Lektorat / Korrektorat: P.ost S.kriptum, Nagelstr. 33, 01279 Dresden

      Verlag & Druck: tredition GmbH, Halenreie 40-44, 22359 Hamburg

      ISBN

Paperback:978-3-7497-2354-6
Hardcover:978-3-7497-2355-3
e-Book:978-3-7497-2356-0

      Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

      Heimat ist, in hüfthohem Unkraut zu stehen und in der Ferne noch immer jenen Zug zu hören, der seit Jahrzehnten nicht mehr fährt.

      Wir existieren, solange sich jemand an uns erinnert.

      Für Euch, Olga und Alexander.

      Vorwort

      Ich wurde durch die Lücken in meiner eigenen Familienbiografie dazu inspiriert, mich mit der geschichtlichen Zeitspanne zwischen 1914 und den 1980er Jahren zu beschäftigen. Dabei haben mich vor allem die Lebensläufe der Frauen interessiert. Im Zuge meiner Recherchen bin ich darauf gestoßen, dass solche Lücken in beinahe jeder deutschen Familie zu finden sind. Zum einen ist das Fehlen der Familienmitglieder, die von jenen Zeiten erzählen könnten, dafür verantwortlich, zum anderen wird ein generationenübergreifendes Schweigen gepflegt.

      Ich habe diesen Roman nicht geschrieben, um aufzuführen, was sich in der Vergangenheit wirklich ereignet hat. Diese Frage könnten nur die Verstorbenen selbst beantworten, und selbst deren Erinnerungen wären kein lückenloser Film ihres Lebens.

      „Irmas Enkel“ ist ein Roman und damit in seiner Gesamtheit eine fiktive Geschichte, die aus vielen Zusammenhängen entstanden ist, die mir meine Recherchen geschenkt haben. Nur einzelne Handlungsstränge ähneln Ausschnitten meiner eigenen Familienbiografie, doch keiner ist eine exakte Kopie der tatsächlichen Ereignisse. Das Dorf Perlitz ist erfunden, alle Personen mit ihren Namen und Eigenschaften sind in meinen Gedanken entstanden. Unverrückbar ist allerdings der Umstand, dass sich die Lebensläufe jener Zeiten durch ihr kollektives Erleben ähneln.

      „Irmas Enkel“ ist kein Sachbuch und erhebt als Roman nicht den Anspruch der Lückenlosigkeit. Er erzählt lediglich drei Familiengeschichten von Millionen, von denen die erste im Dezember 1914 im heutigen Sachsen-Anhalt beginnt …

      Leandra Moor, April 2020

      Das dritte Kind

      Sie schrie, was ihrer Mutter ein Lächeln entlockte.

      Der Doktor hob das Neugeborene in die Höhe. „Es ist ein Mädchen“, verkündete er.

      Helene streckte ihm ihre Hände entgegen, um das Bündel in Empfang zu nehmen. Die Erleichterung, dass alles gut gegangen war, ließ die Warnung des Arztes, dass dieses Kind besser ihr Letztes sein sollte, an ihr abperlen. Sie hatte nur Augen für das zerknitterte Gesicht, das unbeholfen das Repertoire seiner Mimik erprobte.

      „Kochen Sie ihr eine kräftige Suppe“, sprach der Arzt zu Helenes Mutter, die den Raum in den letzten Stunden lediglich verlassen hatte, um frische Tücher herbei zu schaffen. Auch sie hatte kein Ohr für den Doktor - Irmas Gedanken waren bei Emil, ihrem Mann. Er hatte ihr achtzehnhundertneunzig diese Kate gebaut, nachdem er dem reichen Nachbarbauern Plotz ein Fleckchen Erde abgekauft hatte. Damit war er den Pakt mit dem Schuldenteufel eingegangen, aber die Hoffnung, in diesem Dorf glücklich zu sein, wog schwerer. Wie Irma entstammte er einer der Tagelöhnerfamilien, die seit Jahrhunderten von eng abgesteckten Feldern und der Jagd in den Auenwäldern lebten. Keiner ihrer Vorfahren hatte als sein eigener Herr gewirtschaftet. Stattdessen schuftete eine Generation nach der anderen auf den Gütern des Landadels, was Hochzeiten über die Dorfgrenzen hinweg nach sich zog. So war es auch bei Irma und Emil gewesen. Allerdings hatte sie das erhoffte Glück rasch im Stich gelassen - sie hatten nicht zu denen gehört, die kinderreich die Bauernschar der nächsten Jahrzehnte in die Welt setzten. Einzig Helene war ihnen geblieben. Die beiden wertvollen Söhne waren im Kindbett entschlafen. Bereits da hatte Irma befürchtet, dass das Versprechen vom ewigen Sorgenlossein nicht viel wert sein könnte. Drei Jahre später, als Emil es nicht mehr ausgehalten hatte, durch Perlitz zu laufen, hatte sie es schließlich gewusst. Die Scham drüber, dass er keine zufriedenstellenden Antworten geben konnte, wenn ihn die Geldverleiher nach der Rückzahlung fragten, war stetig größer geworden. Eines Tages war Emil nicht mehr auf die Dorfstraße hinausgetreten, bald wagte er sich nicht einmal zu den Hühnern in den Stall. Erst blieb er im Haus, später versteckte er sich in einem einzigen Zimmer, zuletzt lag er nur noch im Bett. Und als die Zeit gekommen war, dass der Gemischtwarenhändler Irma das Anschreiben verwehrte, war er mit gesenktem Kopf über den Hof gelaufen, um sich in einer verborgenen Ecke des Ziegenstalls ein Seil zurecht zu knoten und den wurmlöchrigen Sägebock unter sich umzustoßen. Das war kurz vor dem Weihnachtsfest gewesen, als Helene drei Finger in die Luft streckte, um ihr Alter anzuzeigen, und Irma keine Ahnung hatte, von welchem Geld sie ihrer Tochter den Wunsch nach einer Puppe erfüllen sollte.

      „Frau Köhler, ist alles in Ordnung mit Ihnen?“, versuchte Doktor Sass, Irmas Blick zu lockern.

      „Natürlich“, versicherte die Angesprochene, die die ganze Nacht gebetet hatte, dass ihr dieses neue Kind nicht das Eigene fortreißen möge.

      „Bitte passen Sie auf, dass sich Ihre Tochter in den nächsten Tagen schont.“

      Irma nickte.

      „Gut“, gab der Arzt Zufriedenheit vor, obwohl er wusste, wie viel Arbeit auf den Schultern der beiden Frauen lastete.

      „Helene, gönn dir für ein paar Tage Ruhe“, appellierte er an die Wöchnerin, „die letzten Stunden waren schwer.“ Er interpretierte Helenes Lidschlag als Versprechen, ergriff seine Tasche und verließ den Raum.

      Augenblicklich tobten zwei Blondschöpfe an ihm vorbei. „Mama“, riefen sie im Chor.

      Helene straffte ihre Schultern und löste eine Hand vom Säugling, um über die Gesichter ihrer Söhne zu streichen.

      Seine Mutter schweißnass im Bett liegen zu sehen, ließ den zweieinhalbjährigen Alfred just losweinen. Besorgt tupfte Helene ihrem Jüngsten die Nasenspitze trocken. „Mir geht es gut“, versicherte sie. „Ich bin nur müde.“ Alfreds Kopf sank auf ihre Decke, die Daunen dämpften sein Schluchzen.

      Im Gegensatz zu seinem Bruder hatte der ein Jahr ältere Willi nicht vor zu heulen. Neugierig zupfte er am Bündel auf Helenes Bauch, bis seine Schwester zum Vorschein kam. Die zugekniffenen Äuglein rührten ihn, auch bestaunte er den Flaum auf ihrem Kopf. Beinah zärtlich stupste er gegen die dünnen Finger. Seine Angst, das Baby kaputtzumachen, war groß, doch dem Mädchen gefiel die Berührung ihres Bruders. „Willi, Alfred.“ Helenes Stimme gewann an Kraft. „Das ist eure Schwester Annemarie.“

      „Hallo Annemarie“, flüsterte Willi, dessen Finger die Kleine umschlossen hielt. „Schau, das Baby kann mich gut leiden“, machte er seine Mutter auf die erste Annäherung aufmerksam.

      Irma zog den Schützenstoff


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