Am Boden des Himmels. Joana Osman
Joana Osman
Am Boden des Himmels
Roman
Atlantik
Für meinen Vater
Mohammad Osman
1951–1983
Lass den Himmel
sich auf der Erde widerspiegeln,
auf dass die Erde
zum Himmel werden möge.
Rumi
Eins Traum
Alles was wir sehen oder zu sein scheinen
Ist nur ein Traum in einem Traum
Edgar Allan Poe, »Ein Traum in einem Traum«
Das letzte große Ereignis in der Stadt Kfar Jalah geschah Anfang der achtziger Jahre, als Ibrahim Marwadi seinen Bruder mit einem Olivenbaum tötete. Sie hatten sich um ein Stück Land gestritten, das sie gemeinsam bewirtschaften sollten, und eines Sonntags im Mai raste der eine Bruder wutentbrannt mit seinem Toyota gegen den morschen Stamm des Baumes, der umfiel und den anderen Bruder dabei so unglücklich am Kopf traf, dass er zu Boden ging und starb.
Die Stadtväter werteten den Vorfall als Unfall, doch die Einwohner meiden seither den Olivenhain und nehmen lieber den Umweg über die Hügel.
Normalerweise ist es hier ruhig. So ruhig, dass man hören kann, wie die reifen Aprikosen auf die Straße fallen, wo ihr Duft die Wespen anlockt. Tatsächlich ist Kfar Jalah eines der verschlafensten Örtchen des ganzen Landes, natürlich abgesehen von den regelmäßigen Scharmützeln, Demonstrationen und Ausschreitungen während des ein oder anderen Krieges, die aber, ob ihrer Häufigkeit, keiner mehr zählt.
Im Sommer kann es hier so heiß werden, dass der Lack auf den Autos Blasen wirft, und der Himmel nimmt manchmal eine seltsame schwefelgelbe Farbe an. Die Einwohner sind überzeugt, dass Kfar Jalah der heißeste Ort an der Grenze zwischen Israel und den Palästinensergebieten ist und achten deswegen darauf, um die Mittagszeit kein Metall anzufassen, da es einem die Haut an den Fingern versengen kann.
Die Luft in dieser Stadt ist so feucht und drückend, dass manche Seelen den Ort nicht verlassen können. Anstatt zum Himmel aufzusteigen und das Licht zu suchen, klammern sie sich an einen Fremden, lassen sich direkt über ihm nieder und folgen den Spuren, die seine Schuhsohlen im Sand hinterlassen. Die Kreuzfahrer, die die Stadt im Mittelalter einnahmen, haben das am eigenen Leibe erlebt. Sie kamen in die Stadt, um so viele Unschuldige zu töten, wie sie nur konnten, doch dann wurden sie die Geister ihrer Opfer nicht los, die in ihre Herzen und ihre Köpfe krochen und sie verrückt machten. Seither wechselte die Stadt unzählige Male Namen und Besitzer, doch die Seelen all derer, die auf gewaltsame Weise zu Tode kamen, ob durch Olivenbäume, Säbel, Gewehrkugeln oder Granaten, wandern noch immer zwischen den Bananenbäumen umher, verbergen sich hinter den fächerartigen Blättern und seufzen beim Duft der frisch geernteten Früchte.
***
Layla Al-Riadh lebt seit ihrer Geburt vor siebenundzwanzig Jahren an diesem Ort. Gleich oben, im ersten Haus auf dem Hügel, das mit dem Zitronenbaum im Garten. Ihr Zimmer ist der heißeste Raum des Hauses, eine kleine Kammer, die nach Süden hinausgeht, dorthin, wo die Obstplantagen liegen. Den ganzen Tag über dringen Lärm und Staub und der Geruch von reifen Feigen in ihr Zimmer, sodass sie sich nicht konzentrieren kann, selbst wenn sie es mit aller Kraft versucht.
Layla wünschte, sie würde nicht träumen. Sie wünschte, sie wäre taub und blind, dann würden ihre Träume vielleicht nur vom warmen Wind handeln, oder vom Gefühl von Sand auf ihrer Haut, wenn die Lastwagen den Straßenstaub aufwirbeln.
Nach Mitternacht, wenn die Temperatur so weit gefallen ist, dass man anfangen könnte, an Schlaf zu denken, wäscht sie die Wäsche. Unten im Hof, wo die Eidechsen furchtlos über die Mosaikfliesen huschen, erhitzt sie einen Topf mit Wasser, lässt Waschmittel zulaufen und sieht zu, wie die Wolken aus Seifenlauge langsam bis auf den Grund sinken. Dann legt sie ihre Seidenschals und die bestickten Baumwolltücher hinein, die so fein sind, dass sie wie Luft durch ihre Finger gleiten. Zu fein, um sie in der Maschine zu waschen. Zu fein, um ihr Gewicht zu spüren.
Doch nachdem die Wäsche gewaschen und zum Trocknen auf die Leine gehängt wurde, kommen die Träume.
Eine Frau geht über das Bett, watet durch die gebleichten Laken. Sie ist in einen abgetragenen Mantel gehüllt, neben sich ein kleines Mädchen. Die kleinen Fußspuren gesellen sich zu den großen, die beiden gehen durch eine Stadt, ihre Füße hinterlassen Spuren im weißen Schnee. Die Frau hat die Hand auf den Kopf des kleinen Mädchens gelegt, der mit einer dicken Mütze bedeckt ist. »Halte meine Hand gut fest«, sagt die Frau in einer fremden Sprache. »Wir haben einen weiten Weg vor uns.« Das ist nicht die Stimme von Sabah, Laylas Mutter, und doch weiß Layla, dass die große Frau mit den braunen Augen ihre Mutter ist. Laylas kleine weiße Hand, die schon fast blau vor Kälte ist, wandert zu ihrer Brust, zupft und zerrt am Stoff des zu dünnen Mantels. Und plötzlich bleibt die Mutter stehen.
»Lass das!«, sagt sie, und ihre Stimme ist hart vor Angst. Doch in Laylas Hand liegt bereits ein Stern, zwei perfekte Dreiecke aus gelbem Stoff.
Als Layla im hellen Tageslicht ihres palästinensischen Dorfes aufwacht, sind ihre Hände eiskalt.
***
Es gab wohl einige Vorzeichen, die die Ereignisse ankündigten, man hat sie bloß nicht richtig gedeutet. Da war zum einen dieser merkwürdige trockene Wind im April, der von Süden her kam, über die Felder wehte und jeden noch so winzigen Tropfen Wasser aus dem Boden saugte, bis sich tiefe Risse durch die durstige Erde zogen. Dann war da die Errichtung eines neuen Checkpoints, genau an der Grenze zu Abu Hosseins Olivenhain. Abu Hossein, der wegen des Stacheldrahtes nicht mehr an seine Bäume kam, schrie und schimpfte wie ein Verrückter, aber sein Gebrüll stieß auf taube Ohren. Stattdessen wurde ihm unsanft ein Gewehrkolben in die Rippen gestoßen und man hieß ihn, nach Hause zu gehen und den Mund zu halten. Seither sieht er von ferne zu, wie seine Bäume langsam vertrocknen und murmelt eine Verwünschung nach der anderen.
Es war auch um diese Zeit, als eine fremde Frau im Dorf gesichtet wurde, eine Jüdin. Weil sie alt war und verwirrt, ließen die Dorfbewohner sie in Ruhe, obgleich es einige Kinder gab, die hinter ihr herliefen und ihre ausgestreckten Zeigefinger an die Köpfe hielten, als ob es Hörner wären und dazu unanständige Reime sangen. Der Verrückten schien das nicht aufzufallen oder vielleicht war es ihr auch egal, denn sie fuhr damit fort, die Leute zu fragen, ob sie einen Jungen namens Simon gesehen hätten, so groß, wobei sie die Hand etwa einen Meter über dem Boden schweben ließ. Am Ende verschwand die alte Frau über die Hügel, zurück in ihr Kibbuz, von wo sie gekommen war.
Mit Sicherheit waren das Zeichen, und sicher geschahen in anderen Gegenden noch viele weitere, doch dieses außer Rand und Band geratene Land liefert nun einmal so viele Zeichen, die alle auf das Ende der Welt hindeuten, dass niemand ihnen noch Beachtung schenkt.
Die schlichte Wahrheit ist, dass diese Geschichte, die mit ihren übernatürlichen Merkwürdigkeiten das Leben so vieler Menschen auf so seltsame Weise verändern sollte, an einem sehr normalen Montagmorgen begann.
***
Layla ist schlecht gelaunt aufgewacht, und als sie das Redaktionszimmer des Radiosenders Al-Qamar betritt, wo sie als Reporterin arbeitet, verschlechtert sich ihre Laune noch weiter. Al-Qamar ist der einzige arabische Radiosender in der Region Haifa, und Layla braucht über eine Stunde zur Arbeit, doch immerhin hat sie einen Job. Die Themen bei Al-Qamar wiederholen sich von Woche zu Woche, diese Woche ist es Fußball, dann gibt es noch eine Castingshow und natürlich die bevorstehende Wahl, bei der es ohnehin wieder nur Verlierer geben wird.
Layla weiß, ihr Chef wird sie zum Modelcasting schicken, bei dem sie magere junge Frauen mit Spatzenhirnen interviewen soll, deren einziger Lebenszweck darin besteht, in Kleider zu passen,