Aveline Jones und die Geister von Stormhaven. Phil Hickes

Aveline Jones und die Geister von Stormhaven - Phil Hickes


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hochgewachsener Junge erschien in der Tür hinter dem alten Mr Lieberman.

      »Ah, da bist du ja. Harold, das ist Aveline, eine hochgeschätzte Kundin.«

      Der Junge warf einen Blick in Avelines Richtung, sagte aber kein Wort. Aveline überlegte, ob das daran lag, dass Mr Lieberman so viel sprach, denn das reichte für zwei. Die Familienähnlichkeit zwischen beiden war nicht zu übersehen. Harold war schlaksig wie sein Großonkel. Trübsinnig starrte er unter den Fransen seiner langen schwarzen Haare hervor, als würde er sich nur äußerst ungern um Kunden kümmern.

      Da fiel es ihr wie Schuppen von den Augen.

      Es war er!

      Bücherboy!

      Der Junge, den sie gestern vor der Fish-and-Chips-Bude gesehen hatte.

      »Harold, würdest du Aveline bitte zeigen, wo die Gespensterbücher sind?«

      Harold zögerte eine Sekunde, bevor er antwortete. Aveline kam die Sekunde vor wie eine Ewigkeit.

      »Sie sind oben«, murmelte er schließlich. »Komm mit.«

      Aveline wäre es lieber gewesen, Harold hätte ihr einfach die Richtung gezeigt und sie dann allein gelassen. Aber als sie ihm die schmale Treppe hinauf folgte, wurde ihr klar, dass es aussichtlos gewesen wäre, den Laden auf eigene Faust zu erkunden.

      Im hinteren Teil des Ladens war es sogar noch beengter als vorn. Halb Bibliothek, halb Lagerraum mit Kartons voller Bücher, die den überquellenden Buchregalen den Platz streitig machten. Aveline hätte hier jahrelang stöbern können und hätte nicht mal ansatzweise alles gesehen. Hier oben war es um einiges dämmriger als im Verkaufsraum. Harold schaltete eine alte Lampe ein, vermutlich nur für sie, denn er selbst bewegte sich mit traumwandlerischer Sicherheit durch das Bücherlabyrinth.

      Vor einem Regal blieb er stehen, bückte sich und warf die Haare aus der Stirn.

      »Dieser Laden ist die reinste Müllhalde, aber das, was du suchst, steht vermutlich irgendwo hier.«

      Aveline gefiel die chaotische, kleine Buchhandlung ziemlich gut, aber sie behielt ihre Meinung für sich. Jetzt gab es Wichtigeres zu tun. Als sie das kleine, durchgebogene Regalbrett mit dem Schild Spuk & Übernatürliches entdeckte, hätte sie Harold am liebsten zur Seite geschubst. Es war die reinste Schatzkiste.

      »Danke«, sagte Aveline.

      »Schon okay«, murmelte Harold.

      »Du arbeitest also hier?«, fragte Aveline.

      »An den Wochenenden.« Harold schniefte. »Meine Mum und mein Dad sind oft beruflich unterwegs und in der Zeit kümmert sich mein Großonkel um mich. Arbeit kann man es eigentlich nicht nennen. Die meiste Zeit sitze ich im Hinterzimmer und lese.«

      »Hört sich toll an«, sagte Aveline ein bisschen neidisch. Sie hätte auch gern einen Ort wie diesen für sich gehabt. »Übrigens habe ich dich gestern gesehen. Als wir durch Stormhaven gefahren sind. Du hast ein Buch gelesen und Pommes gegessen.«

      »Oh … ja … kann sein«, sagte Harold, dann verstummte er wieder.

      Einen Augenblick lang herrschte verlegenes Schweigen. Aveline überlegte, ob sie noch einen Versuch unternehmen sollte, das Gespräch am Laufen zu halten, aber Harold machte es ihr nicht gerade leicht. Sie merkte, wie sie rot wurde, als Harold plötzlich auf das unterste Regalbrett deutete.

      »Was gefällt dir überhaupt an diesem komischen Gruselzeug?«

      Mit dieser Frage hatte Aveline nicht gerechnet.

      »Ähm, ich weiß nicht«, sagte sie und wickelte das Ende ihres Schals um die Finger. »Vielleicht grusele ich mich einfach gern. Und ich habe mich schon immer gefragt, ob es Geister gibt oder nicht. Irgendetwas muss an dem Gruselzeug doch dran sein, ich meine, wieso sollte man sich das alles nur ausdenken? Glaubst du an Geister?«

      Harold schnaubte. »Nö, das ist nur ein Haufen Blödsinn. Aber egal, wenn du Geister magst, dann bist du hier genau richtig. Der ganze Ort ist wie ein Friedhof.«

      »Ja, ich habe eine Vogelscheuche gesehen, die richtig gruselig war.«

      »Warte nur, bis du die Einheimischen kennenlernst, die sind noch viel gruseliger.«

      Aveline kicherte. »So schlimm wird es schon nicht sein.«

      »Eigentlich ist es ganz okay hier. Nur ein bisschen ruhig. Aber die Pommes sind echt gut. Du musst sie unbedingt mal probieren.«

      Aveline wurde erneut rot. »Okay.«

      »Bist du mit deinen Eltern da?«

      »Meine Mum hat mich hergebracht«, sagte Aveline. »Mein Dad lebt in Amerika. Sie haben sich scheiden lassen, als ich noch klein war«, fügte sie hinzu. Sie fühlte sich immer zu einer Erklärung genötigt, warum ihre Mum und ihr Dad Tausende von Kilometer getrennt voneinander lebten. »Momentan wohne ich allerdings bei meiner Tante Lilian.«

      »Oh. Okay. Tja, dann überlasse ich dich jetzt den Büchern.«

      »Danke.«

      Aveline meinte, eine leichte Röte auf Harolds Gesicht zu sehen, als er sich zum Gehen wandte, aber wegen seiner wuscheligen Haare konnte man das nicht mit Sicherheit sagen. Zumindest durfte sie jetzt allein in den Schätzen stöbern, die Mr Lieberman in dieser dunklen und staubigen Ecke versteckt hatte.

      Nachdem Harold gegangen war, legte sich Stille über den Raum. Aveline stellte sich vor, wie alle Bücher den Atem anhielten und gespannt darauf warteten, welches von ihnen ausgewählt werden würde. Mr Lieberman hatte von ihnen gesprochen wie von einsamen Menschen. Das hatte Aveline traurig gemacht und am liebsten hätte sie alle mit nach Hause genommen.

      Neugierig kniete sie sich auf den Boden, legte den Kopf schief und ließ den Blick über die Buchrücken gleiten. Die meisten waren alt. Sehr alt. Dazwischen gab es immer wieder ein paar Taschenbücher, die schon bessere Zeiten erlebt hatten, aber der Großteil der Bücher war so, wie man sie heute nur noch selten fand – dicke Wälzer mit welligen Buchrücken und Einbänden, deren Farben inzwischen verblasst waren und denen man ansah, dass sie durch sehr viele Hände gegangen waren. Innen war die Schrift altmodisch und klein, viel kleiner, als Aveline es gewohnt war. Die Seitenränder waren vergilbt und runzlig wie die Haut eines alten Menschen.

      Aveline seufzte vor Vergnügen. Gespensterbücher durften ruhig ein wenig zerfleddert sein, das passte zu ihnen.

      Aber jetzt musste sie entscheiden, welches sie kaufen wollte. Ihre Mum hatte ihr etwas Geld dagelassen. Aveline musste sparsam damit umgehen, aber ein gebrauchtes Buch würde kein allzu großes Loch in ihre Geldbörse reißen. Sie blickte auf ihr Handy und sah, dass sie noch eine halbe Stunde Zeit hatte, bis sie ihre Tante im Café treffen sollte. Sie biss sich auf die Unterlippe und fing an, ein Buch nach dem anderen aus dem Regal zu ziehen.

       Gesammelte Gespenstergeschichten

       Das Beste aus der Welt der Gespenster

       Schauerliche Sagen

       Enzyklopädie der Hexerei und Magie

       Übersinnliche Erzählungen

       Englands Spukgestalten

      So ging es immer weiter. Aveline besaß kein einziges davon, kein Wunder also, dass der Bücherstapel neben ihr immer größer wurde. Eine Auswahl zu treffen, war schier unmöglich.

      Da erregte ein bestimmtes Buch ihre Aufmerksamkeit: flaschengrün mit Goldbuchstaben. Es sah aus, als gehörte es in ein Museum oder eine Universitätsbibliothek. Im Gegensatz zu den anderen Büchern ging es darin um Stormhaven und die nähere Umgebung.

       Gespenster und Phantome von Dorset, Devon und Cornwall

      Volltreffer, genau danach hatte sie gesucht.

      Aveline nahm das Buch aus dem Regal, schlug es auf einer x-beliebigen Seite auf und fing an zu lesen.


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