Talitha Running Horse. Antje Babendererde

Talitha Running Horse - Antje Babendererde


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den Hügel hinauf. Und Picu war Adenas Mischlingshündin. Sie hatte große Ähnlichkeit mit einem Kojoten, und ich war sehr neugierig, wie ihre neugeborenen Welpen aussahen.

      Aber mein Vater lächelte, und als er seinen Hut in den Nacken schob, sah ich ein Leuchten in seinen schwarzen Augen. »Ich weiß ja, dass du deine Tante und Marlin nicht besonders magst, Talitha. Aber Charlene hat einen neuen Nachbarn. Er züchtet Appaloosapferde. Ich habe sie gestern Abend gesehen. Ich glaube, ein neugeborenes Fohlen ist auch dabei. Vielleicht macht es dir ja Freude, die Pferde zu zeichnen.«

      Das war natürlich etwas vollkommen anderes! Auf jeden Fall wollte ich die Pferde sehen. Appaloosas – richtige Indianerpferde. Was hätte ich darum gegeben, selbst welche zu haben. Doch um Pferde zu halten, brauchte man Land, und man brauchte Geld. Wir besaßen zwar Land, aber nicht hier, in Porcupine, wo unser Trailer mit der braunen Holzverkleidung stand. Dad gehörten 1000 Hektar bewaldetes Land in den Hügeln hinter Tante Charlenes Haus. Sein Traum war, dort zu leben, in einem richtigen Haus mit Keller, Innentoilette und fließendem Wasser.

      Mein Traum war, Pferde zu haben, sie zu reiten. Manchmal, wenn ich die Augen schloss, sah ich mich auf dem Rücken eines wunderschönen Pferdes über die Prärie fliegen. Ich konnte das Trommeln seiner Hufe hören, und schon so manches Mal war ich von seinem durchdringenden Wiehern erwacht. Diese Tagträume waren so lebendig, dass ich sogar den Schweiß riechen konnte, der vom Rücken meines Traumpferdes aufstieg.

      »Deine und meine Träume gehören zusammen«, sagte Dad immer. »Wenn wir erst in einem richtigen Haus auf unserem eigenen Land wohnen, dann kannst du auch Pferde haben, das verspreche ich dir.« Doch wie sollte das jemals wahr werden? Wovon sollte mein Vater ein Haus bauen? Sein mageres Einkommen reichte ja kaum fürs Leben und für Benzingeld. Andererseits wusste ich, dass mein Vater nie leere Versprechungen machte. Und so gaben wir nicht auf, mein Dad und ich. Wir gaben unsere Träume nicht auf.

      »Na gut«, sagte ich, »ich komme mit. Will nur schnell Adena anrufen und ihr sagen, dass ich erst morgen vorbeikomme.«

      »Okay«, sagt Dad, »dann beeil dich! Ich wasch mir nur noch die Hände, dann geht’s los.«

      Auf der Fahrt kamen wir am Hügel von Wounded Knee vorbei. Schon von weitem sah man die dunkle Holzkirche, den grauen Gedenkstein und die beiden weiß-roten Steinpfeiler mit dem kleinen schmiedeeisernen Kreuz auf dem Metallbogen, der sich von einem Pfeiler zum anderen spannte.

      Das einsam stehende Tor war der Eingang zu einem Friedhof. Es war ein trauriger, ein unheilvoller Ort. Auf dem Gedenkstein waren Namen eingraviert. Im Dezember des Jahres 1890 töteten die Soldaten der 7. US-Kavallerie auf diesem Hügel fast dreihundert ausgehungerte und erschöpfte Lakota-Indianer.

      Mein Vater und ich sind Nachfahren einer Überlebenden des Massakers. Meine Urgroßmutter Helen Yellow Bird war 13 – so alt wie ich –,als sie und andere Kinder, Frauen und Männer dem schwer kranken Häuptling Big Foot im eisigen Winter auf seinem Marsch über die Badlands folgten, in der Hoffnung, hier im Pine Ridge Reservat bei Red Cloud und seinen Oglala-Lakota Aufnahme und Sicherheit zu finden.

      Aber die US-Armee verfolgte Big Foot und seine Leute. Als sie sie eingeholt hatten, hisste der Häuptling die weiße Flagge. Schwerbewaffnete Soldaten eskortierten die erschöpften, von Hunger und Kälte geschwächten Menschen zum Flüsschen Wounded Knee, wo sie ihr Lager aufschlagen mussten. Am nächsten Tag erging der Befehl, dass alle Indianer ihre Waffen abgeben sollten. Dabei kam es zu einem Handgemenge, und es löste sich ein Schuss aus dem Gewehr eines Lakota-Kriegers.

      Daraufhin eröffneten die Soldaten das Feuer und töteten mehr als 250 von Big Foots Leuten, die meisten von ihnen Frauen und Kinder. Ein Teil der Verwundeten erfror im Schnee, weil sie keine Hilfe bekamen. Noch im Umkreis von zwei Meilen wurden Leichen gefunden. Einige wenige konnten fliehen und sich in Sicherheit bringen.

      Deshalb wohnten auch heute noch Nachfahren der Überlebenden hier in Pine Ridge, bei den Leuten von Crazy Horse und Red Cloud, obwohl sie ursprünglich aus Reservaten im Norden von South Dakota stammten. Auch meine Urgroßmutter Helen fand Aufnahme bei einer Familie in der Nähe von Manderson. Sie heiratete und erzählte das, was sie erlebt hatte, ihren Kindern. Eines davon war mein Großvater Emmet.

      Er sagte immer, dass damals in Wounded Knee nicht nur unschuldige Menschen starben, sondern auch der Traum der Indianer von einem Leben in Freiheit und Würde. Der Heilige Kreis des Lebens war zerbrochen.

      Immer wenn ich am Hügel von Wounded Knee vorbeifahre, muss ich daran denken, wer ich bin. Mein Name ist Talitha Running Horse und ich bin eine Reservatsindianerin. Manche Leute nennen mich Iyeska, Mischling, denn bin ich ein Halbblut. Meine Mutter ist eine Weiße. Ich kann mich noch gut an sie erinnern, obwohl ich sie seit vielen Jahren nicht mehr gesehen habe. All die Jahre hat sie mir nicht geschrieben und mich niemals angerufen.

      Mein Vater Richard und meine Mutter Holly waren beide noch sehr jung, als sie sich kennen lernten. Sie ein Hippiemädchen aus San Francisco in Kalifornien, das ins Lakota-Reservat nach Pine Ridge gekommen war, weil sie Pferde liebte und neugierig auf Indianer war. Mein Dad hatte gerade das College abgeschlossen, wo er eine Ausbildung als Automechaniker gemacht hatte.

      Meine Mutter begeisterte sich für die endlose Weite der Prärie und mochte sogar die Badlands, ein riesiges trockenes Gebiet, das fast nur aus mondfarbenen Kalkfelsen besteht. Sie trafen sich auf einem Powwow,einem unserer Tanzfeste. Es war Liebe auf den ersten Blick und neun Monate später wurde ich geboren. Powwow-Unfall war eines der Schimpfwörter, mit denen mein Cousin Marlin mich am liebsten betitelte.

      Meine Mutter zog zu Dad in den alten Trailer, in dem er mit Großvater Emmet lebte, und sie heirateten vor dem Friedensrichter. Zuerst waren sie sehr glücklich. Doch schon bald hatte meine Mutter genug vom Reservat. Prärie und Badlands verloren ihren Reiz. Sie wollte nur noch weg, zurück nach Kalifornien, zusammen mit mir und meinem Dad. Aber er mochte davon nichts hören, denn er liebte sein Land. Außerdem wollte er seinen Vater nicht allein lassen, der sehr krank war und niemals freiwillig von dem Land fortgegangen wäre, auf dem er geboren war. »Das Land ist mit dem Blut unserer Vorfahren getränkt«, hatte Großvater Emmet gesagt. »Es atmet unsere Geschichte. Hier ist die Heimat der Spirits,unserer Geisthelfer, und hier will ich begraben werden.«

      Ich war damals noch klein, aber ich kann mich daran erinnern, dass meine Mutter und mein Vater häufig stritten. Mom weinte oft und schimpfte über eine Menge Dinge. Dass wir kein fließendes Wasser im Trailer hatten und Dad es immer erst in Kanistern heranfahren musste. Dass die Sommer so glühend heiß und trocken waren im Reservat. Und die Winter so furchtbar kalt, dass jeder Gang aufs Klohäuschen hinter dem Trailer uns vorkam wie eine Polarexpedition. Aber dass wir nie Geld hatten, das war wohl das Schlimmste für sie.

      Eines Tages, es war ein besonders heißer und trockener Sommer, packte sie ihre und meine Sachen, setzte mich in ihr Auto und fuhr mit mir davon. Ich war sieben Jahre alt und dachte, wir würden verreisen. Wir waren schon lange unterwegs in Richtung Westen, da machte meine Mutter Halt an einer Raststätte. Sie ließ mich im Auto sitzen und ging telefonieren. Das Telefon war zu weit weg, deshalb konnte ich nicht hören, mit wem sie sprach, obwohl alle Fenster offen standen. Aber ich sah sie weinen, und das machte mir Angst. Ich weiß noch, wie es in meinem Nacken zu kribbeln begann.

      Schließlich kam sie zurück, ließ mich aussteigen und mit Mister Lukas, meinem Teddy, auf eine Bank setzen. Sie kaufte mir eine Limonade und einen Donut und fuhr mit den Worten »Sei schön brav und warte hier, bis dein Vater dich abholt« davon.

      Ich aß den Donut und wartete. Ich wartete sehr lange und begann schon mir Sorgen zu machen. Aber dann kam mein Dad und holte mich. Von da an lebten wir zu dritt im Trailer und kamen prima miteinander aus. Niemand beklagte sich mehr.

      Drei Jahre, nachdem meine Mutter uns verlassen hatte, starb Großvater Emmet. Ich habe ihn sehr geliebt und er fehlte mir. Es gab Augenblicke, in denen auch meine Mutter mir fehlte. Aber diese Augenblicke wurden immer seltener und irgendwann dachte ich überhaupt nicht mehr an sie.

      Dad bog von der Teerstraße ab, die weiter nach Manderson führte, ratterte über ein Eisengitter, und hinter einer Böschung tauchte das hellblau gestrichene Holzhaus von Tante Charlene auf. Ihre beiden Hunde Scooter und


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