Lakota Moon. Antje Babendererde

Lakota Moon - Antje Babendererde


Скачать книгу
da sollte ich nach Amerika auswandern. Das war einfach absurd, unmöglich. Ich würde mich nicht zum Indianer machen lassen – ich nicht. Mir blieb gar nichts anderes übrig, als wegzulaufen.

      Aber wohin? Zu meinem Vater konnte ich nicht, ich wusste nicht einmal, an welchem Punkt der Erde er sich gerade aufhielt. Die letzte Postkarte von ihm war aus Brasilien gekommen, aber das war jetzt auch schon wieder drei Monate her. Es gab Momente im Leben, da konnte ein Vater ganz nützlich sein, aber in solchen Momenten war meiner nie da gewesen. Nein, mein Vater konnte mir nicht helfen.

      Er ging von uns weg, als ich neun war. Aber schon vorher, als er noch bei uns lebte, hatte ich begriffen, dass ich mich nicht auf ihn verlassen konnte. Hatte er den Auftrag, mich vom Kindergarten abzuholen, war ich meist der Letzte und manchmal vergaß er mich ganz. Das war dann immer richtig schlimm. Ich war unglücklich und heulte nach meiner Mutter. Waren wir beide allerdings allein zu Hause, lief meistens alles ganz prima. Ich durfte fernsehen bis zum Umfallen, wir aßen Pizza und Eis und er erzählte mir von seinen Rucksackreisen, die er als Student gemacht hatte. Das war mächtig interessant und damals wollte ich genauso werden wie er. Wir waren eine ganz normale Familie, bis er auszog und einen Neunjährigen zurückließ, der nichts begriff.

      »Papa will frei sein«, hatte meine Mutter zu mir gesagt. »Er ist ein rastloser Mensch und wir sind ihm nur ein Klotz am Bein.«

      Dieses Bild verfolgte mich lange. Meine Mutter und ich, geschnitzt aus schwerem Holz, wie wir als Gewichte an den Beinen meines Vaters hingen. Das war ein ganz schöner Brocken für einen Jungen von neun Jahren. Und dann, später, als mein Vater uns das erste Mal nach langer Zeit wieder besuchte und er mir in der Stadt ein Eis spendierte, erzählte er, dass meine Mutter ihn rausgeworfen hatte. Ich weiß bis heute nicht, wer von beiden nun im Recht gewesen war, aber ich denke, jeder von beiden ein bisschen.

      Ich liebte meinen Vater. Obwohl ich ihn vor einem Jahr das letzte Mal gesehen hatte, liebte ich ihn. Wenn wir zusammen waren, hatten wir meistens eine Menge Spaß miteinander. Aber um zur Sache zu kommen: Ich hatte einen Vater, auch wenn der mir im Augenblick nicht helfen konnte. Was ich auf keinen Fall brauchte, war noch ein Vater. Und schon gar keinen, der Rodney Bad Hand hieß. »Schlimme Hand«, das konnte alles Mögliche bedeuten. Ich kannte den Mann überhaupt nicht, der mein neuer Vater werden sollte. Ich hatte ihn erst einmal kurz gesehen. Meine Mutter hatte ihn zweimal gesehen, aber ich hielt auch das für unzureichend. Sie musste von allen guten Geistern verlassen sein einen Mann heiraten zu wollen, den sie nur zweimal gesehen hatte.

      Als ich meiner Mutter heute sagte, dass ich nicht mit nach Amerika kommen würde, fing sie an zu heulen. »Warum gönnst du mir nicht, dass ich glücklich bin?«, fragte sie mich. So ein Unsinn. Natürlich wollte ich, dass sie glücklich ist. Aber sie konnte ja schließlich auch hier glücklich werden. Warum musste es unbedingt Amerika sein? Und noch dazu ein Indianerreservat. Keine Ahnung, ob sie überhaupt begriff, was sie uns da einbrockte. Wenn dieser Rodney sie wirklich so sehr liebte, wie sie es behauptete, dann konnte er doch auch zu uns ziehen. Wir würden uns eine größere Wohnung mieten und alles wäre in Butter. Ich könnte Nina haben und meine Mutter Rodney. Ich meine, ich habe doch genauso das Recht, glücklich zu sein, wie meine Mom, oder?

      Ich liebe Nina schon so lange. Wir kennen uns besser als meine Mutter diesen Indianer kennt. Sie haben sich Briefe geschrieben. Briefe! Als ob das was bringt. Da kann man den anderen überhaupt nicht richtig kennen lernen. Sie schreibt ihm nur Gutes über sich und er ihr nur das Beste über seine Person und sein Leben. Klar, dass jeder den anderen für einen tollen Typen hält. Aber so läuft das nicht. Das sind doch alles nur Hirngespinste.

      Auf jeden Fall: Ich werde nicht mitkommen nach Amerika, niemals. Ich haue ab. Ich bleibe hier.

      »Mein Gott Oliver«, rief meine Mutter erleichtert, als mich der Polizist um vier Uhr morgens an unserer Haustür ablieferte. Ich war sogar zu dämlich zum Abhauen. Als die Streifenpolizisten mich am Stadtrand aufgriffen, bin ich nicht mal weggerannt. Ich konnte einfach nicht mehr. Meine Kondition war eben nicht die beste.

      Nachdem wir eine Weile im Streifenwagen umhergefahren waren, hatte ich dem Polizisten schließlich gesagt, wo ich wohne. Ich war müde, todmüde, und wollte nur noch in mein Bett. Und außerdem war er ein ganz netter Kerl. Er hat mir erzählt, dass er einen Sohn in meinem Alter hat, der auch schon mal abgehauen ist. Er sagte, von da an hätten sie immer über alles geredet.

      Wahrscheinlich war er ein guter Vater. Ich ließ mich von ihm zu Hause abliefern, weil er dann mit einem besseren Gefühl seinen Nachtdienst beenden konnte.

      Meine Mutter umarmte mich immer wieder. Sie sah verheult aus und auf einmal tat sie mir Leid. »Ich bin ja wieder hier, Mom«, sagte ich. »Und heute Nacht haue ich auch nicht mehr ab.«

      Sie schluchzte wild auf und ich gab ihr einen Kuss auf die nassen Wangen. »Nun hör schon auf!«, sagte ich, weil mir ihre Tränen peinlich waren.

      »Ich hätte nie gedacht, dass du so sehr dagegen sein würdest«, sagte sie. »Ich dachte immer, du würdest nach deinem Vater kommen und wärst froh mal was anderes zu sehen als Deutschland.«

      »Ich hab ja auch nichts dagegen, mir Amerika anzusehen. Aber deswegen muss ich doch nicht gleich dort leben«, erwiderte ich. »Wenn du Schlimme Hand schon unbedingt heiraten musst, warum kann er dann nicht bei uns wohnen? Hier würde es ihm doch bestimmt besser gehen als in seinem Reservat.«

      »Sprich nicht so über Rodney«, sagte sie leise, weil sie Angst hatte, dass unsere Nachbarn wach werden würden von meinem Geschrei. »Wir haben natürlich darüber geredet, wo wir leben werden, und uns die Entscheidung nicht leicht gemacht.«

      »Aber du hast nachgegeben«, sagte ich und wurde gleich wieder wütend. »Indianermänner sind Machos, hast du das gewusst? Sie trinken und verhauen ihre Kinder und ihre Frauen.«

      Das war dann wohl doch ein bisschen daneben gewesen, denn meine Mutter sah mich nur traurig an und sagte: »Reden wir morgen darüber, Oliver. Ich hatte einen harten Arbeitstag und bin vor Sorge um dich bald verrückt geworden. Ich muss jetzt schlafen.«

      Mom ging in ihr Zimmer, schloss die Tür vor meiner Nase und ließ mich mit meiner Wut und meiner Verzweiflung allein zurück.

      Am nächsten Tag war ich mit Nina verabredet, und bevor ich ihr von der ganzen Sache erzählen konnte, musste ich sie irgendwie geklärt haben. Wenn ich jetzt also verschwand, bevor meine Mutter aufgestanden war, legte ich mich nur selber rein.

      Ich machte Frühstück, das würde sie mir gegenüber gnädig stimmen. Gegen zehn kam sie aus dem Bett und setzte sich zu mir in die Küche. Ich goss ihr einen Kaffee ein und sah sie an. Nicht aus dem Blickwinkel, aus dem ein Sohn seine Mutter sieht. Ich versuchte sie mit Rodney Bad Hands Augen zu sehen. Meine Mom – sie heißt Susanne – trug einen taubenblauen Samtbademantel und das Haar fiel ihr in schweren Locken auf die Schultern. Es hatte die Farbe von reifem Stroh und ich mochte es.

      Über Nacht hatte sich meine Mutter von ihrer Furcht um mich erholt und sah jetzt wie ein junges Mädchen aus, obwohl sie schon 35 war. Also kein Wunder, dass Rodney sie heiraten wollte. Für jemanden, der nicht dazu verdammt war, von ihr erzogen zu werden, war sie wirklich eine tolle Frau. Ich meine, sie sah richtig klasse aus. Ein bisschen wie Sharon Stone, die Figur inbegriffen. Außerdem roch sie immer gut. Meine Mutter hätte wirklich jeden haben können, wieso musste es dann ausgerechnet Rodney sein?

      »Warum muss es Rodney sein?«, fragte ich.

      »Weil ich ihn liebe, Olli«, antwortete sie, »auch wenn du dir das vielleicht nicht vorstellen kannst. Rodney gibt mir das Gefühl, einzigartig zu sein.«

      Oh ja, einzigartig, das war meine Mom wirklich. Besonders, was ihre Zukunftspläne betraf, die mich leider einschlossen. »Aber du kennst ihn doch überhaupt nicht«, wandte ich ein. »Wäre es nicht besser, mit der Hochzeit noch ein wenig zu warten? Du könntest deinen Urlaub bei ihm verbringen, sein Land kennen lernen, das Leben dort.« Mein Gott, ich hörte mich verdammt noch mal an wie ein Vater, der sich um seine minderjährige Tochter sorgt. Ich hätte mich eher darum kümmern sollen, was meine Mutter in ihrer Freizeit so treibt. Vermutlich hatte ich sie vernachlässigt, und das waren nun die Folgen.

      Ihre


Скачать книгу