Die Frau des schönen Mannes. Mario Schneider

Die Frau des schönen Mannes - Mario Schneider


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wir nicht rein«, antwortete ich und war froh, das Thema so schnell beendet zu wissen, doch dann sagte er:

      »Vielleicht ist ja dein Bruder da drin.«

      »Nein, ist er sicher nicht«, sagte ich, und ich wusste schon, dass wir kurze Zeit später die Klinke nach unten drücken würden.

      »Wir können doch mal nachschauen. Wollen wir nicht mal reingehen, ihn suchen? Vielleicht haben sie ihn ausgestellt.«

      »Er ist ja nicht drin, Paul. Komm jetzt«, sagte ich.

      ›Ausgestellt‹, auf was für Ideen Kinder kommen. Wir waren oft im Museum gewesen, und dann hieß es von Paul nur: ›Ich will das Mammut und den Dinoknochen sehen.‹

      Er zog mich am Arm und auf die Tür zu.

      »Komm, wir wollen reingehen, ihn suchen.« Und ich ließ mich ziehen. Ich weiß nicht, in welcher Sekunde man sich zu etwas entschließt, ob man nachgibt oder streng bleibt, es muss da aber diese Sekunde geben, denn oft stehen die Entscheidungen auf der Kippe und können, scheinbar durch einen Luftzug, ins Eine oder Andere fallen.

      Ich hoffte, die Tür wäre verschlossen, doch sie war es nicht.

      Paul schob sie vorsichtig und geräuschlos auf. Er zögerte, hineinzugehen, und so blieben wir auf der abgetretenen Schwelle stehen und schauten in ein finsteres Gewölbe, das nach Weihrauch und faulem Holz roch. Der hintere Teil verlor sich im Dunkel. Durch ein kleines rundes Loch in der Decke fiel ein staubiger Lichtstrahl auf eine in den Boden eingelassene, steinerne Grabplatte. Auf der rechten Seite stand eine Holzbank vor einem schweren Samtvorhang. An der Wand gegenüber hing ein großes, fast erblindetes Triptychon. Die Farben waren so stark nachgedunkelt, dass man in dem schummrigen Licht kaum etwas darauf erkennen konnte. Eine Lanze, ein Stück Wolke, ein längliches, schmerzverzerrtes Gesicht.

      Unsere Augen hatten sich etwas an die Dunkelheit gewöhnt, und so konnten wir den hinteren Teil des Raumes sehen. Paul zog vorsichtig an meinem Arm und flüsterte: »Da ist jemand.« Auch er sah den Mann, der dort hinten auf einem Stuhl saß, den Kopf auf den Tisch gelegt hatte und offensichtlich schlief; aber kaum, dass Pauls Stimme verklungen war, wachte er auf, wandte sich zu uns um und fragte mit kräftiger Stimme aus dem Gewölbe heraus:

      »Kann ich Ihnen helfen?«

      Die Situation war mir unangenehm, und ich wandte mich leise an meinen Jungen: »Komm, wir stören den Herrn«, und dann lauter nach hinten in den Raum: »Entschuldigen Sie bitte.« Ich drehte mich um und zog Paul am Arm, in Richtung der Tür. Doch er, den Alten immer noch fest im Blick, plapperte mit großer Zuversicht:

      »Ist der Bruder hier? Wir suchen Papas Bruder. Er ist gestorben. Ist er hier?«

      Ich blieb stehen, drehte mich wieder um. Paul griff mit einer Hand mein Hosenbein und wartete die Antwort ab.

      »Entschuldigen Sie, dass wir stören. Die Tür war nicht verschlossen. Entschuldigung.«

      »Nicht so schlimm, kommen Sie ruhig herein«, sagte der Pfarrer. »Wie heißt er denn, der Bruder?«

      Paul sagte: »Weiß ich nicht.« Dann schaute er mich an und fragte: »Wie heißt er denn, Papa?«

      Und ich sagte, obwohl ich es nicht wollte: »Sebastian.«

      Ich hatte das Gefühl, dass dieses Wort den Raum anders durchmaß als alle anderen Worte, als dauere es eine Ewigkeit, bis es verklungen war, und mir fiel auf, wie lange ich diesen Namen nicht laut ausgesprochen hatte.

      Der Mann stand von seinem Stuhl auf und kam durch das Gewölbe auf uns zu. Ich sah in ihm alle seine Vorgänger, wie sie die Grabsteine unter sich abgenutzt hatten und nur durch das Darüberstreifen ihrer weichen Gewänder. Hier in diesem Raum herrschte die Zeit milder, dachte ich.

      Der Pfarrer war bei uns, beugte sich zu Paul hinunter, und es hätte kein Finger zwischen seine Nase und die meines Sohnes gepasst, und sagte:

      »Wieso denkst du, dass er hier ist?«

      Mein Junge, davon unbeeindruckt, gab ihm direkt ins Gesicht zurück:

      »Weiß nicht. Ist er hier?«

      »Schon möglich«, sagte der Pfarrer.

      Ich fand diese Antwort unerhört, doch fiel es mir schwer, ihm zu widersprechen. Mich interessierte, worauf er so geheimnisvoll hinauswollte. Mein Junge wandte sich von ihm ab und deutete auf eine große hölzerne Truhe mit einem halbrunden Deckel.

      »Darf ich da reinschauen?«

      Der Pfarrer richtete sich auf. Sein Gesicht wurde von dem Lichtstrahl getroffen, und seine Züge glichen kurze Zeit denen des Leidenden auf dem Triptychon hinter ihm.

      »Aber sicher«, sagte er und beobachtete, wie Paul hinüberlief, den Deckel der Truhe anhob und hineinblickte.

      »Da ist ja nichts drin.«

      Mit diesem Pfarrer stimmte etwas nicht. Während er und mein Sohn die alten Schränke öffneten und auf der Suche nach meinem Bruder die Schubladen aufzogen, stand ich da und hörte immer noch den Namen, und ich hörte ihn aus dem Wald zu mir klingen, das Echo meines verzweifelten Rufes.

      Nachdem der Alte und Paul sich niedergekniet und unter der abgestellten Kirchenbank gesucht hatten, dies ging nicht ohne einiges Gelächter ab, stützte sich der Pfarrer auf die Bank und sagte:

      »Schau doch mal hinter dem Vorhang hier nach.«

      Sofort sprang Paul hoch, lief zum einen Ende des Vorhangs und versuchte, ihn aufzuziehen. Er hatte Mühe, den schweren Samt zu bewegen, aber der Alte war schon bei ihm, packte mit an und gemeinsam zogen sie ihn auf. Dahinter war eine Feldsteinmauer, und an dieser hing ein mannshohes Kreuz und am Kreuz ein von Holzwürmern durchlöcherter, staubig-grauer Jesus.

      Paul wich einen Schritt zurück.

      »Papa, sieh mal, ist das dein Bruder?«

      Der Pfarrer lächelte und beugte sich zu meinem Sohn hinunter. Er nahm den kleinen Kopf zwischen seine Hände und lachte laut auf, als er sagte: »Ja, mein Junge, das ist deines Vaters Bruder, er ist unser aller Bruder.« Paul blickte diesen Priester verblüfft an. »Das ist jemand, der für uns gestorben ist. Verstehst du das? Er hat sich geopfert, für uns alle, auch für dich.«

      Mir schien, mein Sohn versuchte, mit dem Kopf zu schütteln, doch der Pfarrer hielt ihn fest. Ich ging auf diesen Alten zu, nahm den Arm meines Jungen und zog ihn fort.

      »Wir gehen dann mal wieder«, sagte ich streng, mehr zum Pfarrer als zu meinem Sohn, und fast hätte ich den Alten für seine Unverfrorenheit gerügt, da sagte er:

      »Entschuldigen Sie. Das war wohl nicht richtig. Warten Sie! Einen Augenblick noch.« Er ging zu seinem Tisch zurück, öffnete eine kleine Schatulle, nahm etwas heraus und kam wieder zu uns zurück.

      Er ergriff Pauls Arm und legte es in seine Hand. Ich konnte nicht gleich erkennen, was es war.

      »Hier, nimm das, mein Junge. Es ist ein kleines Geschenk, aber es ist mehr wert als alle Geschenke der Welt.«

      Die dreiste Art des Alten machte mich beinahe sprachlos.

      »Nein, danke. Das reicht jetzt«, sagte ich, doch bevor ich weitersprechen konnte, unterbrach mich Paul:

      »Oh ja, Papa, darf ich es haben? Ach bitte, Papa! Ich möchte es behalten.«

      Und dann sah ich, was der Pfarrer ihm gegeben hatte. Es war ein kleiner Jesus am Kreuz, und er war aus Kautschuk, wie die Indianer und Soldaten, mit denen ich als Kind gespielt hatte.

      »Na gut, wenn es denn sein muss. Bedank dich bei dem Herrn«, sagte ich zu Paul, und er ganz artig: »Danke.«

      Wir waren wieder heraus aus der Kirche. Die Frühjahrssonne schien schräg über den Marktplatz, und wir gingen in Richtung Eisstand, der wohl den ersten Tag geöffnet hatte. Paul griff meine Hand und fragte mich: »Was ist das, geopfert?«

      Es war noch recht kühl draußen, und ich steckte die andere Hand in die Jackentasche, da fühlte ich die Kerze. Die hatte ich über diesen


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