Die Frau des schönen Mannes. Mario Schneider

Die Frau des schönen Mannes - Mario Schneider


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ist eine seltene Eigenschaft des Menschen«, antwortete ich.

      »Ja, aber was genau?«

      Ich musste etwas länger darüber nachdenken, und Paul wartete geduldig auf meine Antwort.

      »Stell dir vor, du möchtest ein Eis und wir wären arm und hätten kein Geld, und da steht ein kleiner Junge vor der Eistruhe und bekommt gerade eine schöne große Tüte von dem Verkäufer. Sagen wir, der Junge hat lange gespart dafür, und nun sieht er dich, wie du gerade von mir hörst, dass ich kein Geld hätte und es deshalb nichts wird mit Schoko und Erdbeer. Da kommt dieser kleine fremde Junge auf dich zu und gibt dir sein Eis. Was sagst du dazu?«

      »Toll. Was für ein Junge!«, sagte Paul wie aus der Pistole geschossen.

      »Nun, meinst du, es gibt viele von solchen Jungen?«

      »Ich glaube nicht.«

      »Das nennt man: geopfert.«

      »Ach.« Nach einer kleinen Pause sagte er: »Hat sich dein Bruder auch geopfert?«

      »Oh nein.«

      »Wieso ist er dann tot?«

      »Er ist als Kind sehr krank geworden und dann gestorben.«

      »Was hat er denn gehabt?«

      »Eine seltene Krankheit.«

      »Das versteh’ ich nicht«, sagte Paul.

      »Ich auch nicht«, sagte ich.

      Normalerweise wäre das mit Paul der Anfang eines langen, eines sehr langen Gespräches gewesen, doch an diesem Tag hatte er wohl gespürt, dass ich die Antwort wirklich nicht wusste und dass mir die Unterhaltung schwerfiel und mich bedrückte. Deshalb nahm er mit seiner kleinen Hand die meine und ging mit mir nach Hause.

      In den kommenden Tagen konnte ich Paul dabei beobachten, wie er mit seinen Indianern und Soldaten spielte, und zwischen ihnen tauchte immer dieser Jesus auf. Er ging an seinem Kreuz durch die Reihen der Kämpfer, manchmal schwebte er an ihnen vorüber und sie blickten ihm nach und riefen laut, und ich konnte in der Küche hören, was sie riefen, und ein Schmerz durchlief mich, wenn mein Junge wieder und wieder verkündete:

      »Sebastian ist da! Er wird uns helfen, er hat so viel Kraft! Sebastian ist ein Held!«

      Dann schlug er mit dem Jesus in die feindlichen Reihen und fegte sie davon.

      ICH MAG DICH SOGAR SEHR!

      Die ›Queen Mary 2‹ war beim letzten Mal direkt vor meinem Hotelfenster vorbeigefahren. Ich konnte in die tausend beleuchteten Kabinen schauen und die tausend Fernseher hinter den halb durchsichtigen weißen Gardinen flackern sehen.

      Dieses Hotel hier hatte nichts dergleichen zu bieten. Das Zimmer war eng, und an den Wänden waren graue, feuchte Flecken. Ich fühlte die Anwesenheit von hunderten dumpfen Gestalten, die dieses Zimmer bewohnt und abgenutzt hatten. Neben dem Bett hatten sie sich die Schuhe ausgezogen und dabei an der Tapete schwarze und braune Kratzer hinterlassen. Die Energiesparlampe an der Decke tauchte den hohen Raum in eine kalte Schäbigkeit. Das war alles so erbärmlich, und ich war es auch. Das wurde mir jetzt klar. ›Ich werde anrufen und das absagen‹, dachte ich. ›Die werden sagen, gebucht ist gebucht. Haben ja auch sicher recht damit. Also gut, dann wird es so sein.‹

      Ich schaltete das große Licht aus, ging im Halbdunkel zum Fenster, und warf einen kurzen Blick auf die gegenüberliegende Häuserzeile, an der ein großes Schild »Kino« ab und zu die Farbe wechselte. Ich zog die Gardinen zu und machte die kleine Nachttischlampe an. Ich holte meinen Laptop aus der Tasche, klappte ihn auf und legte ihn aufs Bett. iTunes war noch offen. Ich klickte auf den Ordner ›Easy‹ und dann auf den Titel 1. Ich schaute auf die Uhr. Es war genau zehn. Es klopfte.

      ›Pünktlich‹, dachte ich ›Das ist absurd.‹

      Ich ging zur Tür, drückte die Klinke nach unten und zog schwer, gegen den automatischen Verschluss, die Tür auf.

      Da waren fünf Sekunden, in denen ich mich nicht zurechtfand. Sie war die schönste Frau, der ich je die Tür geöffnet hatte. Sie war vollkommen in Schwarz gekleidet. Das Einzige, was ich von ihr sah, war ihr Gesicht, das mich nicht anschaute, sondern an mir vorbei ins Hotelzimmer blickte. Mir war klar, dass sie so eine Absteige nicht gewohnt war, denn sie war keine, die man für fünfzig Euro bekommen konnte. Noch bevor ich etwas sagen konnte, tat sie es. »Was soll das denn für ein Hotel sein?«

      »Ja, entschuldige, das … normalerweise, das Hotel, in dem ich sonst immer bin, war ausgebucht, Zahnarztkongress. Ich wusste nicht, dass das hier so aussieht. Entschuldige.«

      Erst jetzt sah sie mich direkt an, und ich konnte in ihrem Blick sehen, dass sie überlegte, ob sie bleibt oder wieder geht. Sie traf ihre Entscheidung sehr schnell. »Naja, machen wir das Beste draus.« Sie trat einen Schritt auf mich zu und lächelte. »Darf ich?«

      »Ja natürlich, komm rein.«

      Sie ging an mir vorbei ins Zimmer. Sie war einen Kopf kleiner als ich und roch nach einem Parfüm, das mir bekannt war. Eine meiner Ex-Freundinnen hatte es getragen. Ich schloss die Tür. Sie blieb in der Mitte des Zimmers direkt vor dem Doppelbett stehen und drehte sich zu mir um. »Wie ist dein Name?«

      »Martin.«

      Sie gab mir ihre Hand, und ich berührte sie zum ersten Mal. Es war eine kleine Hand, und sie passte genau in die meine.

      »Monique.«

      Wir schauten uns direkt in die Augen. Ihre waren schwarz und sanft. Es schien mir, als wäre etwas Ehrliches darin. Ich ließ ihre Hand los und ging zum kleinen Glastisch am Fenster. »Es gibt hier keine Minibar, deswegen war ich vorhin noch etwas einkaufen.«

      Sie lachte kurz, als sie den Sekt und die Schokolade sah. »Ist ja süß.«

      »Willst du was?«

      »Wir sollten erst das mit dem Geld klären«, sagte sie freundlich.

      »Ja, entschuldige, natürlich.«

      »Ich weiß, viele machen das hinterher. Aber meine Agentur besteht darauf, dass ich es vorher kläre.«

      »Na klar, kein Problem«, sagte ich und ging hinüber zur Garderobe, an der meine Jacke hing. Ich gab ihr die 350 Euro. Sie steckte das Geld, nachdem sie es gezählt hatte, in ihre Handtasche und fragte schnell, so, als hätte es diese Übergabe nie gegeben: »Was ohne Alkohol hast du wohl nicht?«

      Ich fragte, ob sie Bionade mag.

      »Oh ja, das trink’ ich gern.«

      Ich bückte mich, holte zwei Flaschen aus der Einkaufstüte, öffnete sie und hielt ihr eine hin. Sie nahm sie, schaute mich kurz an und stieß ihre Flasche gegen die meine. »Prost«, sagte sie und setzte sich auf die Liege an der Wand, gegenüber dem Bett. »Das ist ein bisschen wie in einem Studentenwohnheim hier.«

      Ich lächelte und setzte mich zu ihr. »Stimmt.«

      Wir schauten uns beide stumm im Zimmer um. Ich dachte, ich müsste etwas sagen, da sie nichts sagte. »Ich mache das hier zum ersten Mal und weiß nicht so richtig, wie das abläuft.« Natürlich, ich war nervös und hatte Angst. Als ich bei ihrer Firma anrief, hatte ich gehofft, sie würde sich einfach nur ausziehen, dann mich und wir würden es miteinander treiben. Nun kam mir diese Vorstellung unangenehm fremd vor.

      »Das hängt von dir ab«, sagte sie und als ich nichts erwiderte, »Wir können uns erst etwas unterhalten und dann werden wir weitersehen, oder?«

      ›Danke, unterhalten, das ist gut, danke‹, dachte ich. »Ja, das ist gut.«

      »Warum hast du eigentlich mich verlangt? Ich meine, in der Agentur sind so viele gut aussehende Frauen, warum gerade ich?«

      »Du warst mir am sympathischsten«, und das war die Wahrheit. Ich sah mich am Schreibtisch in meiner Wohnung sitzen, meinen aufgeklappten Laptop und die Bilder dieser Frauen vor mir. Aber nur sie konnte es sein. In ihrem Blick stand keine laszive


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