Norderende. Tim Herden

Norderende - Tim Herden


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Stromzähler rotierte, wenn er sie in Betrieb nahm. Die Stromrechnung würde sich sehen lassen können. Trotzdem wollte er hier bleiben.

      „Aber was ist denn genau passiert?“, drang Charlotte auf ihn ein.

      „Ich erzähle es dir morgen früh. Jetzt bin ich einfach platt. Lass uns ins Bett gehen“, sagte Rieder.

      Sie kletterten die schmale Holztreppe hoch. Im Bett schmiegte sich Charlotte eng an ihn. Zu mehr aber war er nicht mehr imstande. Trotzdem genoss er es, dass sie jetzt so nah beieinander unter dem Reetdach wie in einer Höhle lagen. Durch die halbrunden Fenster konnte man in die Weite schauen und sich langsam vom Schlaf einfangen lassen.

       V

      Das nervtötende Jaulen eines Kantenschneiders weckte Rieder. Es musste genau acht Uhr sein. Otto Fock, der Gastwirt von gegenüber, war ein Muster an Pünktlichkeit. Anfang August hatte ihm die Post das Gerät gebracht. Seitdem litt Rieder jeden Mittwoch und Freitag ab acht Uhr für mindestens eine halbe Stunde Höllenqualen. Das Geräusch kroch in die Gehörgänge und marterte das Gehirn. Es gab kein Entkommen, außer der Flucht zum Revier.

      Rieder hatte Fock gefragt, ob das Gras an der Rasenkante nach drei Tagen wirklich so gewachsen wäre, dass es dringend gestutzt werden müsste. Der hatte Rieder einfach stehen lassen. Umgekehrt allerdings marschierte Otto Fock inklusive Inselordnung bei jedem auf, der in seiner näheren Umgebung nach zwölf Uhr mittags in seinem Garten noch einen Rasenmäher oder Häcksler betrieb. Seine Gäste in den Appartements und im Restaurant würden sich durch den Lärm in der Mittagsruhe oder beim Mittagessen gestört fühlen. Wer trotzdem weitermachte, wurde angezeigt. Damp freute sich immer, wenn der Gastwirt mal wieder anrief oder bei ihm im Revier aufkreuzte. Da hatten sich zwei im Geiste gefunden.

      Das Bett neben Rieder war schon leer. Er sprang auf, lief die Treppe herunter. Charlotte stand fertig angezogen in der Küche. Es duftete nach Tee und frischen Brötchen.

      „Bist du schon lange auf?“

      „So, wie du gesägt hast, hätte ich auch schon vor zwei Stunden aufstehen können. Aber es lag nicht nur daran. Ich habe heute so viel vor. Da schlafe ich immer so unruhig. Ich habe dann immer das Gefühl, zu verschlafen oder was zu verpassen.“

      Rieder zeigte auf die frischen Brötchen. „Und beim Bäcker warst du auch schon?“ Charlotte nahm das Tablett, trug es ins Wohnzimmer. Dabei berichtete sie: „Da war was los. Der Tod von Stein ist das große Thema. Alle sind total aufgeregt. Erzähl doch mal, was da passiert ist. Bin ja nicht umsonst die Geliebte eines Bullen.“

      „Ich dachte, du magst mich.“

      „Nun übertreib mal nicht gleich“, spöttelte sie. „Stimmt es, dass er erstochen wurde? Überall Blutlachen?“

      „Quatsch.“

      Rieder setzte sich und berichtete ihr, was passiert war. Das war zwar nicht ganz nach Dienstvorschrift, aber alles andere wäre ohnehin sinnlos gewesen. Neuigkeiten machten auch ohne ihn auf der Insel die Runde.

      Er goss sich und Charlotte Tee ein. „Ich kannte ihn gar nicht. War er denn so eine große Nummer?“, fragte Rieder.

      „Er war der Bauunternehmer auf der Insel“, rief Charlotte, als könnte sie es nicht fassen, dass Rieder ihn nicht kannte. „Mir hat er damals beim Ausbau vom, Strandcafé‘ geholfen.“ Dann wurde sie nachdenklich. „Wenn ich mir vorstelle, dass ich noch vor zwei Tagen mit ihm gesprochen habe.“

      „Worum ging’s denn?“

      „Er hat mir die Pension ‚Luv & Lee‘ gezeigt, die geschlossene Kneipe vorn am Seglerhafen, vor dem Deich.“

      „Wieso das?“, fragte Rieder verwundert.

      „Ich habe überlegt, dort ein zweites Café aufzumachen. Laufkundschaft gibt’s da genug, weil viele auch über den Deich nach Kloster laufen oder fahren. Für eine Pension ist die Lage auch nicht so schlecht. Gleich am Hafen.“ Sie stützte das Kinn auf ihre Hand. „Weiß gar nicht, warum die Godglücks damit pleitegegangen sind?“

      Rieder starrte seine Freundin an. „Noch eine Kneipe? Du hast doch schon mit dem ‚Strandcafé‘ alle Hände voll zu tun!“

      „Darüber können wir später reden. Ich muss los. Das Schiff nach Schaprode wartet nicht.“

      Charlotte hatte sich nebenbei zwei Brötchenhälften geschmiert, klappte sie zusammen und stürzte den Tee herunter.

      Keine zwanzig Minuten später betrat Rieder das kleine Revier im Rathaus in Vitte. Auf dem Weg dahin waren ihm überall kleine Grüppchen von Hiddenseern begegnet. An der Bushaltestelle Wallweg, am Zeitungsladen, am Supermarkt. Sie hatten zusammengestanden und heftig miteinander diskutiert. Immer wieder hatte er den Namen Peter Stein aufgeschnappt.

      Damp saß schon am Schreibtisch und hämmerte auf die Tasten des Laptops. „Moin, Moin“, grüßte Rieder und ließ sich auf seinen Stuhl fallen. „Die Insel gleicht ja einem Bienenschwarm.“

      Damp schaute gar nicht auf. Er nickte nur geistesabwesend.

      „Was machen Sie da?“

      Jetzt blickte er hoch. „Ich habe mir überlegt, einen Aufruf zu starten. Es waren doch gestern so viele Leute am Kino. Vielleicht hat einer was gesehen oder gehört. Ich hänge ihn an den Hinweistafeln auf. Vielleicht meldet sich jemand.“ Schon tippte Damp weiter.

      Rieder war überrascht. Sonst stand Damp kriminalistischer Arbeit eher ablehnend gegenüber. Die Idee war gar nicht schlecht. Zu viel Begeisterung wollte Rieder aber seinem Kollegen auch nicht gönnen. „Das könnte was bringen. Hat sich Behm schon gemeldet?“

      „Geht neun Uhr bei Gebauer in Stralsund aufs Schiff.“ Uwe Gebauer war der Kommandant der Wasserschutzpolizei, zuständig für die Boddengewässer zwischen Hiddensee und Rügen. „Er wird wohl gegen zehn in Kloster sein. Ich hole ihn dort ab. Er will sich dort erst den Toten ansehen. Der Pfarrer weiß auch schon Bescheid“, erklärte sein Kollege, ohne die Arbeit zu unterbrechen.

      Rieder kam aus dem Staunen nicht heraus. Was war mit seinem Kollegen passiert? Warum legte er sich so ins Zeug?

      „Dann würd’ ich mal versuchen, Frau Stein zu erreichen.“

      „Äh ...“, Damp kratzte sich am Kopf, „das habe ich ganz vergessen. Die hat sich schon gemeldet. Sie weiß schon Bescheid.“

      „Der Inselfunk?“ Damp schüttelte den Kopf, ließ aber offen, wie Frau Stein vom Tod ihres Mannes erfahren hatte. „Sie ist jetzt wieder zuhause“, teilte er nur mit.

      Rieder hätte der Ehefrau lieber selbst die Todesnachricht überbracht. Aus der ersten Reaktion konnten sich schon eine Menge Schlüsse für die Ermittlungen ergeben.

      In diesem Moment öffnete sich die Tür, und Bürgermeister Durk kam herein. Er grüßte Rieder kurz. Dann wandte er sich an seinen Kollegen. „Ist der Aufruf schon fertig?“

      „Bin in den letzten Zügen.“

      Rieder schwante etwas. Also daher wehte der Wind. Durk machte Druck.

      „Mit Ihnen müssten wir natürlich auch noch reden, um uns ein besseres Bild von Peter Stein zu machen“, wandte sich Rieder an den Bürgermeister.

      „Kein Problem. Ich helfe Ihnen, wo ich kann. Sagen Sie nur Bescheid, wenn Sie Unterstützung brauchen. Ich will auch nicht weiter stören.“ Er war schon fast zur Tür raus, da drehte er sich noch einmal um. „Herr Damp, Sie bringen mir das bitte dann vorbei. Die Damen von der Insel-Information sind schon instruiert. Sie vervielfachen den Aufruf und verteilen ihn.“ Dann schloss er die Tür.

      Rieder schaute seinen Kollegen an. „Herr Damp ... und bitte bringen Sie mir das dann vorbei“, äffte Rieder den Bürgermeister nach. „Was ist denn hier los?“

      Damp kratzte sich am Kopf. Er beugte sich vor, senkte seine Stimme. „Durk war heute Morgen schon bei mir im Büro. Er hat ein paar Vorschläge


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