Sophienlust Paket 3 – Familienroman. Patricia Vandenberg
erhob sich, kletterte auf einen Stuhl und prüfte, ob die Pflanze Wasser brauchte. Aber sie war frisch gegossen. Sein Finger hatte feuchte Erde berührt. Da fühlte er sich plötzlich zu Hause. Es schien ihm, dass in einem Heim, in dem täglich die Pflanzen gegossen wurden, auch für ihn gut gesorgt werden würde.
»Komm, Kai«, forderte er seinen Freund munter auf, »wir wollen unsere Koffer auspacken. Danach schauen wir uns alles an.«
Statt zu antworten, ließ Kai seinen Blick suchend durch das helle Zimmer schweifen. Schließlich fragte er: »Hast du schon die Hausordnung entdeckt?«
»Welche Hausordnung?«
Nun setzte auch Kai sich auf. »In jedem Heim gibt es eine Hausordnung, auf der ganz gemeine Dinge befohlen werden.«
»Woher weißt du das?«
»Von Erwin Krämer aus unserer Schule. Er war einmal in einem Heim.«
Das leuchtete Robin ein. Aber so viel er auch suchte und sogar an den Innentüren des Schrankes nachsah, er fand keinen Zettel mit strengen Verboten.
»Na ja, sie werden es uns zum Mittagessen vorlesen«, meinte Kai und erhob sich. Doch mitten beim Kofferauspacken lachte er laut auf.
»Warum lachst du?«, wollte Robin wissen.
»Ich lache über deine Mutter und meinen Vater. Richtig ulkig, wie sie das mit uns ausgeheckt haben. Wenn sie sich so gut verstehen, sollten sie doch gleich heiraten. Dann wären wir wenigstens Brüder.«
Robin hielt gerade einen Stoß seiner Lieblingsbücher in der Hand. Er wollte sie auf dem Bord an der Wand abstellen. Nun rutschten ihm die Bücher vor Überraschung fast herunter. Seine großen Augen sahen erstaunt und auch betroffen drein. Noch nie hatte er an die Möglichkeit gedacht, dass seine Mutter heiraten könnte. Nun schmerzte es ihn plötzlich umso mehr, dass er seine Mutter mit dem fiesen Peter Knoll zurückgelassen hatte. Jetzt war sie ihm doch schutzlos ausgeliefert. Ob Kais Vater ihr zur Not beistehen würde?
»Aber dein Vater ist doch schon verheiratet, Kai.«
»Das weiß ich selbst.« Kai warf ein Bündel Unterwäsche lustlos zurück in den Koffer und setzte sich. Er stützte schweigend seinen Kopf in die Hände und blickte verträumt zum Fenster hinaus.
»So’n Mist!«, schimpfte er, und Robin wusste nicht, ob der Freund damit das Heim, die fehlende Hausordnung oder etwa Dinah, die Ehefrau seines Vaters, meinte.
*
»Das ist Barri.« Nick stellte sich neben den bildschönen Bernhardiner und kraulte ihn hinter den Ohren. Voller Stolz präsentierte er den klugen Hund den beiden neuen Heimkindern Kai und Robin.
Nick war nach der Schule in Sophienlust geblieben und nicht nach Schoeneich gefahren. Seine Mutter hatte gerade eine schwere Grippe überstanden und ihn gebeten, sich um die Neuankömmlinge zu kümmern. Als er aus dem Schulbus gestiegen war, hatte Frau Rennert schon dagestanden, auf das Haus gedeutet und erklärt: »Kai Platen und Robin Wirthner sind oben in ihrem Zimmer. Sie packen ihre Koffer aus.«
Das hatte Nick sich nicht zwei Mal sagen lassen. Ohne auf die anderen Kinder zu achten, war er sofort nach oben gestürmt, hatte bei den beiden Jungen angeklopft und sich vorgestellt.
»Es wird gleich gegessen«, hatte er verkündet. »Kommt mit hinunter. Dann stelle ich euch die anderen Kinder vor.«
Und nun war ihnen als erster Heiminsasse Barri begegnet.
Kais eben noch so betrübtes Gesicht hellte sich auf. »Das ist ja ein Prachtkerl«, staunte er. »Der gefällt mir. Darf ich ihn streicheln?«
»Aber natürlich. Du kannst ihn auch mit in dein Zimmer nehmen und mit ihm spazieren gehen. Barri gehört uns allen. Er ist klug genug, um zu wissen, dass er den Kindern gehorchen muss.«
Nick hatte das mit aller ihm gegebenen Selbstverständlichkeit erklärt. Er ahnte nicht, dass er damit den ersten Kummer in Kai wegwischte.
Dann führte er die beiden in den Speisesaal. Hier hatten sich schon etwa zwanzig Kinder um den großen Tisch versammelt. Eifrig schnatternd warteten sie darauf, ihren Suppenteller vorgesetzt zu bekommen. Aber es dauerte ein wenig. Pünktchen hatte Tischdienst und musste Ulla beim Austeilen der Speisen behilflich sein. Als Nick mit Kai und Robin eintrat, sah das Mädchen ihn so selig an, dass die beiden gefüllten Suppenteller in seinen Händen nicht an ihr Ziel kamen. Pünktchen rührte sich nicht vom Fleck. Sie strahlte nur Nick an.
Das blieb den anderen Kindern nicht verborgen, und weil sie nach der Schule alle sehr hungrig waren, stupsten sie sich – belustigt über Pünktchens Träumerei – gegenseitig an.
So kam es, dass Robin und Kai mit einem ungewöhnlich fröhlichen Gelächter begrüßt wurden. Das, und der köstliche Duft der heißen Bouillon mit Fleischklößchen, der ihnen in die Nase stieg, brach das Eis. Gleich darauf saßen sie am Tisch und fühlten sich auch gar nicht mehr von ihren Eltern verbannt.
»Ich mache einen Vorschlag«, verkündete Nick. »Jeder von euch stellt sich jetzt selbst den Neuen vor. Das spart Zeit, und die anderen können weiteressen.«
Else Rennert, die am oberen Ende des Tisches Platz genommen hatte, zwinkerte Nick zu. »Heidi ist die Jüngste«, meinte sie. »Heidi soll anfangen. Dann habe ich mit meiner Vorstellung noch Zeit bis zum Nachtisch.«
Alle lachten. Heidi aber hielt ihren Löffel im Mund, als bringe sie kein Wort heraus. Die Augen aller waren nun auf sie gerichtet.
»Wie heißt ihr denn?«, fragte sie schließlich leise, fast schüchtern. »Seid ihr Zwillingsbrüder?«
»Wir heißen Robin und Kai. Aber Brüder sind wir nicht.« Robin lachte das kleine Mädchen freundschaftlich an. So ein lustiges Kind mit blondem Haar und frechen Ponyfransen hatte er sich immer als Schwesterchen gewünscht. Hier, so schien es ihm, hatte er nun mit einem Schlage alle Sorten von Schwestern und Brüdern bekommen. Ältere und jüngere, stillere und frechere. Das kleine Mädchen schien zu den ganz stillen zu gehören, denn außer der Frage, die es eben gestellt hatte, kam nun nichts mehr aus ihm heraus. Das bemerkte auch Nick. »Du musst weitermachen, Heidi. Du sollst dich vorstellen.«
Unwillkürlich war Nick in einem etwas strengen Tonfall verfallen. Heidi blickte unsicher zu ihm hinüber. Dann legte sie ihren Löffel auf den Teller und erhob sich. Mit der großen Serviette vor dem Bäuchlein wirkte sie kleiner, als sie war.
Alle folgten ihr mit den Augen. Wo wollte sie denn hin?
Da aber fragte Heidi kleinlaut: »Wo soll ich mich denn hinstellen, Nick?«
»Nirgends. Du sollst dich vorstellen.«
»Aber wovor denn?« Ihre Kleinmädchen-Stimme hatte nun etwas Ungeduldiges.
Jetzt begannen die größeren Kinder zu lachen. Auch Nick. Aber er begriff, dass er Heidi Unrecht getan hatte. Sie war noch zu klein, um das Wort ›vorstellen‹ richtig verstehen zu können.
»Ich werde es dir vormachen, Heidi. Du kannst dich ruhig wieder setzen.« Er räusperte sich und begann: »Ich bin Nick, fünfzehn Jahre alt, lebe in Schoeneich, komme oft zu Besuch her, liebe Pferde, Hunde, Fahrräder und …«
»… Pünktchen.« Das war Fabian gewesen, der freche Lausebengel. Als er aber Nicks empörten Blick bemerkte, duckte er sich unwillkürlich und grinste spitzbübisch. Darüber freute sich die große Runde jetzt so lautstark, dass auch Kai und Robin in das Gelächter einfielen. Die Teller der beiden waren bald leer. Und als sich alle Heimbewohner vorgestellt hatten, kam Magda mit zwei großen Schüsseln herein. Darin war das erste Rhabarberkompott des Jahres und eine leckere Schlagsahne. Stolz stellte sie den Nachtisch auf die Tafel.
Magda war mit einem allgemeinen ›Aaaah!‹ begrüßt worden. Es war ganz überflüssig, dass auch sie sich vorstellte. Der süße Duft, der von der Schleckerei ausging, sprach Bände.
*
Einige Wochen waren seitdem vergangen. Über die Großstadt hatte sich ein heißer Sommer gelegt, der die Menschen an ihren Arbeitsplätzen lufthungrig