Sophienlust Paket 3 – Familienroman. Patricia Vandenberg
früh komme ich gleich zu dir ins Zimmer.« Pieter konnte kaum noch die Augen offenhalten.
»Ja, mein Junge.«
»Du, Vati.«
»Ja?«
»Bekomme ich später auch einen eigenen Hund?«
»Vielleicht, Pieter. Also, gute Nacht.« Enno gab ihm einen Kuss. Der kleine Junge streckte sich behaglich unter der leichten Decke aus, dann nahm er seinen Teddy in die Arme und schloss mit einem kleinen Lächeln die Augen.
Heidi schlief schon, als Enno auf leisen Sohlen das Zimmer verließ. Draußen wurde er von Frau von Schoenecker erwartet. Sie gingen zu dem Wagen, in dem schon ihre beiden Söhne Nick und Henrik und ihr Mann saßen.
Enno verbrachte einen unvergesslich schönen Abend in Schoeneich. »Ich komme mir wie in einem anderen Jahrhundert vor«, sagte er nach dem Abendessen, als sie zu viert auf der Terrasse saßen. Nick durfte noch ein Weilchen bei ihnen bleiben. Wie meist, wenn Besuch da war, pochte er auf seine Rechte als zukünftiger Herr von Sophienlust, um damit zu erreichen, dass man ihn schon zu den Erwachsenen zählte. Außerdem war er an diesem Tag besonders glücklich. Denn seine Aufnahmen von der Kindermodenschau waren von einer Frauenzeitschrift gekauft worden.
Alexander nickte. »Herr Cornelius, auch mir ergeht es oft so, obwohl ich doch die meiste Zeit hier draußen lebe. Aber Schoeneich und Sophienlust haben den Charakter erhalten, der sie von Anfang an auszeichnete.«
»Mein Mann hat recht. Manchmal sehe ich die früheren Besitzer deutlich vor mir. Die Damen in ihren langen Kleidern und den Wespentaillen. Und die Männer mit ihren Cuts und Vatermördern.«
»Was ist denn das?«, fragte Nick erstaunt.
»So nannte man früher die hohen steifen Kragen der Herren«, belehrte Alexander seinen Sohn lachend.
Als Nick gegen zehn Uhr auf einen heimlichen Wink seiner Mutter hin gute Nacht sagte, sah man ihm deutlich an, wie sehr er bedauerte, sich schon zurückziehen zu müssen.
Enno blieb bis gegen Mitternacht. Dann brachte Alexander ihn nach Sophienlust. Er schloss ihm noch die Haustür auf und geleitete ihn bis zur Treppe.
»Von hier finde ich allein in das Gästezimmer«, sagte der Industrielle lächelnd. »Und noch einmal herzliche Grüße an Ihre Frau. Sie ist eine wundervolle Frau«, fügte er noch hinzu und erwiderte den Händedruck des Gutsbesitzers fest.
Alexander lächelte ihn herzlich an.
Enno schlief gleich ein. Am nächsten Morgen wurde er durch einen Kuss seines Sohnes geweckt. Doch gleich nach dem Frühstück musste er sich auf den Heimweg machen, um einigermaßen pünktlich in seinem Werk zu sein. Zu seiner freudigen Überraschung fand er Julia dort vor. Mit einem verhaltenen Lächeln begrüßte sie ihn und sagte: »Ich habe nur auf Sie gewartet, Herr Cornelius. Ich bin ja noch krank geschrieben. Anschließend möchte ich mir ein paar Tage Urlaub nehmen.«
»Selbstverständlich, Frau van Arx.« Ennos Freude über das unverhoffte Wiedersehen war erloschen. Julias kühler Ton und ihre formelle Anrede, die ihn nach dem vertrauten Beisammensein in ihrem Appartement doppelt schwer traf, wirkten auf ihn wie eine eiskalte Dusche.
Sie sprachen noch über einige geschäftliche Angelegenheiten, dann verabschiedete Julia sich von ihm. Als die Tür hinter ihr zufiel, hatte Enno das Gefühl, dass ihm von nun an die Welt zur Glückseligkeit für immer verschlossen bleiben würde.
*
Nach den beiden schweren Schicksalsschlägen, die sie so rasch hintereinander in Amsterdam ereilt hatten, war Julia aus ihrer Heimatstadt geradezu geflüchtet. Seitdem war sie nie mehr in Amsterdam gewesen. Auch jetzt, als sie mit einem Taxi, das sie auf dem Flughafen Schiphol gemietet hatte, durch die ihr so vertrauten Straßen fuhr, überfielen sie die Erinnerungen wieder
in schmerzlicher Weise. Tränenblind schaute sie sich nach allen Seiten um. In den Grachten spiegelte sich das Geäst der alten Bäume und die Giebel der vornehmen Bürgerhäuser. Unter den Munttoren war wie eh und je Blumenmarkt.
Tränen lösten sich von Julias Wimpern, als sie an den herrlichen Frühlingstag dachte, an dem Wim ihr einen Arm voll Blumen gekauft hatte. Das war der Tag gewesen, an dem er sie gefragt hatte, ob sie ihn heiraten wolle.
Nun fuhren sie über die Magere Brug, eine schmale Holzbrücke über die Amstel. Wie oft hatten Wim und sie hier am Geländer gelehnt und auf das Wasser hinuntergeschaut. Dabei hatten sie in Zukunftsträumen geschwelgt.
Das Taxi hielt vor einem freundlichen kleinen Hotel, das Julias Vorstellungen entsprach und auch nicht gar so teuer war. Von dort waren es nur ein paar Schritte bis zur Prinzengracht. Und wenn Julia eine der Brücken überquerte, konnte sie das Haus sehen, in dem Wim und sie gewohnt hatten.
Julia entlohnte den Chauffeur. Ein Diener mit grüner Schürze kam aus dem Hotel und bemächtigte sich ihres Gepäcks. Das Zimmer, das sie bekam, war klein, aber urgemütlich mit seinen gepflegten Möbeln, dem dicken Teppich und dem winzigen Duschraum.
Julia duschte sich und zog sich um. Danach verließ sie das Hotel auf der Suche nach einem bestimmten Restaurant, in dem sie häufig zusammen mit Wim gegessen hatte.
Als sie dann an einem der Tische saß und durch das große Fenster blickte, wurde ihr noch schwerer ums Herz. Damals, als sie ihr Kind erwartete und Wim noch lebte, hatten sie an jedem Sonntag hier zu Abend gegessen. Das Essen war gut, und die Preise waren niedrig. Wim und sie hatten sich ausgemalt, wie es sein würde, wenn ihr Kind mit ihnen hier zusammen sitzen würde. Wenn …
Julia zwang sich, an etwas anderes zu denken, weil ihr schon wieder Tränen in die Augen stiegen. Wie gut war es doch, dass den Menschen Grenzen gesetzt waren und sie nicht in die Zukunft schauen konnten. Könnten sie es, gäbe es wohl kaum ein unbeschwertes Glück auf Erden, dachte sie. Denn jeden Menschen trafen irgendwann einmal schwere Schicksalsschläge.
Julia ging nach dem Essen noch etwas spazieren. Dann aber verkroch sie sich wie ein waidwundes Tier in ihr Hotelzimmer und überließ sich ihrem Kummer.
Am nächsten Tag führte sie ihr erster Weg in das Krankenhaus, in dem sie ihr Kind zur Welt gebracht hatte und in dem es gestorben sein sollte. Sie fragte nach Dr. Claus Aarhof. Dass er schon vor Jahren Amsterdam verlassen hatte und irgendwo in Afrika in einem Hospital mitten im Busch arbeitete, war für sie wie ein Schlag mitten ins Gesicht. Aber die Stationsschwester, die sie damals betreut hatte, war noch da. Sie erkannte Julia sogar wieder.
»Wie kann ich Sie vergessen«, erwiderte die Schwester freundlich auf Julias erstaunte Frage über ihr gutes Gedächtnis. »Sie gehören zu den wenigen Frauen, die einem im Gedächtnis haftenbleiben – nicht nur durch tragische Umstände«, sagte sie leise. »Wir alle haben es damals als besonders tragisch empfunden, dass gerade Ihr Kind hatte sterben müssen.«
»Wie hießen denn die anderen Frauen, die damals zur gleichen Zeit mit mir im Kreißsaal lagen?«
Die Schwester nannte zwei Namen von verheirateten Holländerinnen, mit denen sie noch jetzt in Kontakt stand. »Beide haben noch Kinder bekommen und lagen stets auf meiner Station. Ja, und dann war da noch die Studentin. Ihren Namen habe ich vergessen. Sie schien eine Freundin von Dr. Aarhof zu sein. Ich glaube, sie hieß Lucy … Ja, Lucy Bomans.«
»Lucy Bomans? Lag denn zu dieser Zeit nicht auch eine Betty Cornelius bei Ihnen im Krankenhaus?«, fragte Julia drängend.
»Der Name ist mir unbekannt. Aber das hat natürlich nichts zu sagen. Wenn Sie wollen, erkundige ich mich mal.« Schon hob die Schwester den Telefonhörer hoch.
Nachdem sie mit mehreren Stellen im Haus telefoniert hatte, zuckte sie bedauernd mit den Schultern. »Nein, niemand kennt eine Frau mit diesem Namen. Auch scheint sie niemals hier gewesen zu sein.«
Julias Enttäuschung wurde immer größer. Sollte sie denn ihr ganzes Leben lang mit diesem Zweifel im Herzen herumlaufen? Was bedeutete es schon, wenn ein anderes Kind dieses bewusste Hemdchen getragen hatte? Vielleicht war das Hemd mit irgendeinem anderen Wäschestück vertauscht worden.