Mischpoke!. Marcia Zuckermann
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Samuel Kohanim, Oberhaupt einer der ältesten jüdischen Familien in Westpreußen, ist durchschnittliches Unglück gewöhnt. Seine Frau Mindel, schroff und wortkarg von Natur, gebar ihm sieben Mädchen. Die »sieben biblischen Plagen«, wie die Kohanim-Töchter im Dorf genannt werden, strapazieren die väterliche Geduld: Selma, die mit ihrem religiösen Spleen alle meschugge macht, Martha, die am laufenden Band haarsträubende Lügengeschichten erfindet, Fanny, die nicht unter die Haube zu bringen ist, der Wildfang Elli, Jenny, Flora – und Franziska, »die Katastrophe auf Abruf«, bildschön, stolz und eigenwillig.
Nach dem Ersten Weltkrieg sucht die Familie Kohanim Zuflucht in Berlin. Während Martha in gehobene Berliner Kreise einheiratet und ihr Mann Leopold zum Christentum konvertiert, lässt sich Franziska mit dem ebenso charismatischen wie unzuverlässigen jüdischen Gelegenheitsarbeiter und Glücksritter Willy Rubin ein und lebt fortan im »roten Wedding«. Auch die revolutionäre Oda, die deutsch-russische Adlige wider Willen und Freundin der Familie, hat es in die Hauptstadt verschlagen. Im Laufe der Jahre verbindet sich ihr
Schicksal endgültig mit jenem der Familie Kohanim, deren Stammbaum die unterschiedlichsten Triebe ausbildet, jüdische wie nicht-jüdische, nationalistische wie kommunistische.
Meinen Kindern und Enkeln
Inhalt
Kaddisch für einen Kronprinzen
Der gute Ort und der Zwölffingerige
Über Kleinbürger, gewesene Helden und andere Folgeschäden
Ein Morgen, das kein künftiges Heute ist
Max im Glück und Herrenausstatter im Pech
Wenn wir fallen, dann fallen wir tief
Das Feuer und der gewässerte Hering
Vorbereitung eines hochverräterischen Unternehmens
Ein Ende mit und ohne Schrecken
Die Anklage
Als man mich vom Flughafen Berlin-Tegel mit dem Krankenwagen hier in die Nervenklinik einlieferte, lautete die Diagnose »akute Synkope mit partieller Amnesie«. Seit Istanbul am Hafen kann ich mich an nichts erinnern. Licht aus, Ton aus, ein langes schwarzes Nichts. Blackout.
Erst im Krankenzimmer der Neurologie in Spandau wachte ich wieder auf. Offenbar wusste man nicht so recht, wohin mit mir. Ständig wurde ich im Bett hin- und hergerollt, begleitet von Pflegern mit der Statur von Preisboxern. »Ich kann doch laufen«, gab ich zaghaft zu bedenken, »warum fahren Sie mich eigentlich herum?«
»Aus juristischen und versicherungstechnischen Gründen«, erklärte mir der Glatzkopf mit den bösen Augen am Fußende des Bettes. Vor Schreck presste ich meine Handtasche noch fester an mich. Dabei war die Tasche vorher wahrscheinlich schon zigmal durchwühlt worden. Selbst das Innenfutter hat jemand aufgeschnitten! Erst hielt man mich wohl für eine demente Alte, dann aber für eine Kriminelle. Die Bundesrepublik Deutschland klagt mich an: Verdacht auf Verstoß gegen § 96 des Aufenthaltsgesetzes, gem. Absatz 1, Hilfe zur Schleusung, und nach Absatz 2, Vorwurf des gewerbsmäßigen Schleusens von Ausländern. So steht es in der Klageschrift.
Nach Absatz 1 wird mir eine Freiheitsstrafe von drei Monaten bis zu fünf Jahren angedroht, nach Absatz 2 gleich der doppelte Satz: sechs Monate bis zu zehn Jahre! Jetzt bin ich in der geschlossenen Psychiatrie gelandet. Den Polizisten vor meiner Tür haben sie inzwischen abgezogen.
Ist das nun eher eine Zelle oder ein Krankenzimmer? Jetzt bloß nicht an Kafka denken! Vielleicht ist es sogar gut, dass ich mich nicht erinnere? Irgendwas muss gründlich schiefgegangen sein. Nur was?
Eine Fliege, die im Doppelfenster meines Krankenzimmers gefangen ist, rasselt schon wieder gegen die Scheibe. Seit zwei Stunden geht sie mir damit auf die Nerven.
Aus