Odysseus und die Wiesel. Georg von Wallwitz

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      Georg von Wallwitz

      ODYSSEUS

      UND DIE WIESEL

      Eine fröhliche Einführung in

       die Finanzmärkte

      BERENBERG

Inhalt:

      PROLOG

      Die Finanzwelt ist eine eigene Welt, die jedem unbegreiflich erscheint, der nicht Teil von ihr war oder ist. Darin ist sie wie eine Armee, wie ein Kloster, wie ein College in Oxford, wie ein Gefängnis. Stärker noch als diese Institutionen hat sie aber immer wieder die Tendenz, ungefragt in das tägliche Leben der Menschen hineinzuwirken und Rat- und Mutlosigkeit bei jenen zu hinterlassen, die sich keinen Reim darauf machen können, wie sie selbst mit dieser Welt zusammenhängen.

      Die enorme Komplexität des Geschehens an den Kapitalmärkten bedeutet, dass alle einfachen Erklärungen des Geschehens wahrscheinlich falsch sind. Die modernen Märkte sind schwer zu verstehen, weil sie stark ausdifferenziert sind und nur Außenseiter Interesse an Transparenz haben. Das bedeutet, dass nicht nur die Laien, sondern auch die Mehrheit der hauptberuflichen Teilnehmer am Börsenspektakel große Verständnisschwierigkeiten haben. Diese Schwierigkeit lässt sich aber beheben. Die Finanzwelt verbirgt sich nicht hinter Kasernen-, Klosteroder Gefängnismauern, sondern in einer Sprachwelt, die nur zum Teil der Sache geschuldet ist. Ziel dieses Buches ist es, sich auf die Mauer zu setzen und den modernen Finanzmärkten zuzusehen, wie sie funktionieren, wie sie tanzen und wie sie stolpern.

      Die Finanzmärkte sind der Philosophie seit Marx und der Literatur seit Zola als Thema ein wenig abhanden gekommen. Das mag daran liegen, dass die schönen Disziplinen, aller Sprachgewalt und menschlichen Einsicht zum Trotz, nicht erklären können, wie die Börse funktioniert. Das ist das Thema der Finanzwissenschaft. Aber sie können dabei helfen, zu verstehen, was sich dort abspielt. Sie haben eine Reihe von Werkzeugen zur Verfügung, die zwar nicht bei der Suche nach dem richtigen Wertpapier (sofern es das gibt) helfen, die aber die dem Börsengeschehen zu Grunde liegenden Phänomene begreifbar machen. Die Märkte lassen sich auch ohne Rückgriff auf eine technische Sprache beschreiben, von der man manchmal sowieso annehmen muss, dass sie dazu erfunden wurde, um Spuren zu verwischen.

      Der Geist bildet sich seinen Körper. In Wallensteins Lager zeigt Friedrich Schiller exemplarisch, wie das Heerlager des großen Feldherren zunächst Ausdruck seines Gestaltungswillens ist, ihm dann aber entgleitet und zu einem Nest von Intrigen wird, in dem er schließlich untergeht. Hier stellen wir dieselbe Frage: Welches ist der Geist, der sich die Finanzmärkte so ausgeformt hat, wie wir sie heute vorfinden? Und welcher Geist kann sich heute darin behaupten?

      Homer hat den Prototypen eines unruhigen Geistes geschildert, der sehr gut in die moderne Welt passt. Odysseus hat sich aus fast allen traditionellen Bindungen gelöst, treibt rastlos auf den Meeren umher, ist zum eigenen Vorteil kompromisslos listenreich und belügt sogar die Götter, wenn es opportun erscheint. Wichtiger als alles ist ihm das Überleben, das Weiterkommen, auch wenn die Gefährten auf der Strecke bleiben. Odysseus ist wundervoll ideenreich und hat eine unglaubliche Härte gegen sich und andere. Im positiven wie im negativen Sinne lässt sich Odysseus als Ideal des modernen Unternehmers beschreiben, dessen Eigenschaften auch an der Börse jeder gerne hätte. Die Realität an der Börse wird aber nicht von Prototypen geprägt, sondern von ganz gewöhnlichen Menschen, von Fondsmanagern, Analysten, Maklern und Händlern, die ständig überfordert sind, weil sie Zusammenhänge und Unternehmen analysieren und verstehen müssen, die viel zu komplex sind, um jemals für Außenstehende durchschaubar zu sein. An den Börsen dominiert nicht der Typus des modernen Helden, sondern ein Menschenschlag, dem es geht wie dem Wiesel, das zwar als Raubtier in die Welt gekommen, für ernsthaftes Beutemachen aber viel zu klein ist und daher immer wieder scheitert. Die Natur hat das Wiesel zu dürftig ausgestattet für das, was es leisten soll – die Finanzwelt begreifen. So steht

      an den Finanzmärkten dem Ideal der Geisteshaltung des Odysseus eine Wieselwelt gegenüber, die den Überlebenskampf nicht inszeniert wie ein Held, sondern bitter ernst erfährt.

      Die meisten Theoriebücher zur Börse beginnen, als sei die Frage trivial oder bereits beantwortet und als könnte man die Geschichte ignorieren. Sie tun so, als könnte man ein Kloster verstehen, indem man die Regel des Heiligen Benedikt liest. Die Praxisbücher hingegen spüren diesem Geist zwar oft nach, sind aber fast immer anekdotisch und letztlich wenig geistreich, denn am Ende steht den Autoren der Körper in der Regel näher als der Geist. Diesen Fallen versuchen wir zu entgehen, indem wir weder ein Theorie- noch ein Praxis- noch ein Geschichtsbuch schreiben, sondern einen Essay. Seinen Zweck hat dieses Buch erfüllt, wenn die literarisch gestimmten Leser verstehen, warum die Finanzmärkte nicht nur nützlich sind; und wenn die Börsianer verstehen, warum Literatur nicht nur schön ist.

      1. DAS BÜHNENBILD

      Die Geschichte Hollands ist sehr viel weniger blutig und grausam

       als die von irgendeinem der umliegenden Länder. Nicht umsonst

       hat Erasmus jene Eigenschaften als echt niederländisch gepriesen,

      die wir auch echt erasmisch nennen könnten: Sanftmut, Wohlwollen,

       Mäßigung und eine allgemein verbreitete mittlere Bildung.

      Keine romantischen Tugenden, wenn man so will.

      Die modernen Finanzmärkte haben einen breiten, mit vielen Schleifen und Verästelungen durchsetzten Quellgrund, ein fein geädertes System von kleinen, sich ständig verschiebenden Rinnsalen, von denen sich schwer sagen lässt, ob sie überhaupt genug Wasser führen oder bald wieder versickern.

      Der Beginn des neuzeitlichen Finanzwesens lässt sich nur willkürlich bestimmen, aber ein guter Kandidat ist das Jahr 1602, als in Amsterdam die Aktiengesellschaft erfunden wurde. Im 16. Jahrhundert initiieren einzelne Handelshäuser immer längere Reisen nach Asien, die mit hohen Kosten und Risiken verbunden sind. Um die Wende zum 17. Jahrhundert ergibt sich für die niederländischen Kaufleute aber die Gelegenheit, ihren Asienhandel nochmals dramatisch auszuweiten. Durch den Niedergang Portugals während der Herrschaft der spanischen Habsburger und die Vernichtung der Armada durch die Engländer im Jahr 1588 ist es ein Leichtes, die iberischen Handelsniederlassungen in Asien zu übernehmen. Dafür bedarf es einer militärischen und kaufmännischen Infrastruktur, die über die Möglichkeiten der einzelnen Kaufleute hinausgeht. Die Lösung finden die Handelsherren von Amsterdam und Zeeland in einem Zusammenschluss ihrer Häuser zur Vereinigten Ostindischen Kompanie, die vom Staat gegen eine Zahlung von 25.000 Gulden für 21 Jahre mit einem Monopol auf den Handel östlich des Kaps der Guten Hoffnung und westlich der Magellanstraße ausgestattet wird. Zum Handelsmonopol kommen noch eine Reihe souveräner Rechte, wie das Recht zur Ernennung von Gouverneuren, das Recht, neben der Flotte auch noch eine Armee zu betreiben, sowie die Ermächtigung, völkerrechtlich bindende Verträge abzuschließen.

      Zur Finanzierung eines so langfristig angelegten Unternehmens bedarf es eines festen Kapitalstocks. Mit Krediten oder Anleihen, die immer wieder fällig werden und deren Verlängerung unsicher ist, lassen sich nur zeitlich überschaubare Projekte bezahlen. So kommt es zur Ausgabe von zunächst nicht-rückzahlbaren Anteilsscheinen, Aktien genannt, im Gegenwert von 6,5 Millionen Gulden, einer damals stattlichen Summe. Die Aktionäre sind nicht Gläubiger, sondern Inhaber des Unternehmens. Sie sind über Dividendenzahlungen an den Gewinnen beteiligt, müssen aber den Verlust von Kapital hinnehmen, wenn die Ware verdirbt oder die Handelsposten von den Iberern überfallen und geplündert werden. Während Inhaber einer Anleihe (wie jeder Kreditgeber) einen fest vereinbarten Zins und am Ende der Laufzeit das geliehene Geld zurückerhalten, leben Aktionäre vom Unternehmensgewinn, der weniger sicher ist als eine Zinszahlung, dafür aber potentiell sehr viel höher.

      Die Ostindische Kompanie wird ein voller Erfolg und sorgt dafür,


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