Zeit für Weiblichkeit. Diana Richardson
dich nicht dazu verleiten, dem Mann zu sagen, was er tun und wie er es tun soll. Die Frau ist durch ihr empfängliches Wesen der tantrischen Sphäre näher und bewegt sich darin sehr viel natürlicher und leichter als der Mann. Er muss einiges an Arbeit leisten, um den ganzen Überbau seiner erregungsgesteuerten Sexualität abzubauen. Er braucht dein volles Verständnis, ja sogar Mitgefühl. Statt den Mann zu kritisieren, kannst du ihm Brücken bauen, um zwischen der alten und der neuen Methode zu vermitteln.
Wenn der Mann in die tantrische Richtung gehen will, braucht er den gleichen inneren Fokus wie die Frau, um mit seiner natürlichen, männlich-spontanen Kraft in Kontakt zu kommen und auf seine gewohnten männlichen Strategien zu verzichten. Gib ihm Raum zum Experimentieren und kooperiere mit seiner Realität (seiner sexuellen Konditionierung), ohne dich auf ein Ideal zu fixieren, das nur Stress erzeugen und aus eurem schönen gemeinsamen Abenteuer ein einziges Tauziehen machen würde. Viele Männer sind natürlich sehr erfreut, wenn ihre Frau eine bestimmendere Rolle im Sex übernimmt. Es könnte also durchaus sein, dass dein Mann mit einer gewissen Erleichterung auf dein neues Interesse reagiert und es nicht unbedingt als Bedrohung für sein Ego ansieht. Mit Sicherheit liegt das größte Potenzial darin, gemeinsam, mit vereinten Kräften zu forschen, als Einheit und nicht als zwei getrennte Personen, von denen jeder „sein Ding“ macht.
Allerdings kann die Frau viele der in diesem Buch gegebenen Vorschläge für sich selbst ausprobieren, während sie Liebe macht, ohne dass ihr Mann unbedingt damit einverstanden sein muss. (Er wird jedoch nicht umhin kommen zu bemerken, dass die sexuelle Begegnung irgendwie an Zauber gewonnen hat.) Du kommst aber nicht drum herum: Wenn du deinen Stil beim Liebemachen ändern willst, setzt das immer dein individuelles Engagement voraus und nicht unbedingt das gemeinsame Engagement des Paares.
Du als Individuum musst den Wunsch haben, bewusster, empfänglicher und offener zu werden und solltest es nicht davon abhängig machen, was dein Partner möchte oder was er eventuell von dir erwartet. Sonst kann es sein, dass du dich immer nur im Kreis bewegst und nie aus der Falle herauskommst, in der du dich befindest. Zum Beispiel könnte sich die Situation ergeben, dass dein Mann „kommen“ will. Was machst du dann? Du könntest dich ihm anschließen und dir sagen: „Na gut, was soll’s, dann mach ich halt mit.“ Aber das ist kein individuelles Engagement. Das würde bedeuten, die Verantwortung für deine Transformation an den anderen abzugeben, und das funktioniert nicht. Stattdessen könntest du dich dafür entscheiden, nicht zu kommen, sondern dich lieber zu entspannen und es einfach zu genießen, ihn seine Erfahrung machen zu lassen, ohne dich selbst zum Kommen zu zwingen, nur weil er es tut. Und falls du dich tatsächlich dazu entschließt, dieses Mal auch zu kommen, dann gehe es einfach auf eine leichtere, weniger anstrengende Weise an. Sei experimentierfreudig und ermögliche dir, dich einmal ganz anders zu erleben.
Falle nicht auf die üblichen Mechanismen herein. Experimentiere für dich selbst und sei neugierig, was dabei herauskommt!
Es kann durchaus sein, dass der Mann beim Liebemachen eine Zeitlang auf seinem Orgasmus besteht. In diesem neuen Kontext könnte das aber nach einer Stunde lustvollen Liebemachens geschehen – was das ganze Bild enorm verändert! Warum auch nicht? Nach einer gewissen Zeit kann es aber sein, dass der Mann nicht mehr unbedingt ejakulieren muss und damit auch zufrieden ist. Er ist erfüllt und hat bemerkt, dass er sich nachher energetisch aufgeladen fühlt.
Durch Experimentieren und das Beobachten der Nachwirkungen bekommt der Sex mit der Zeit einen anderen Stellenwert, der weit über den normalen Zeitvertreib hinausgeht. Unser üblicher Maßstab für guten Sex ist: Hat es Spaß gemacht? War es erquickend? Tatsächlich kann man viel mehr Aufschluss darüber bekommen, ob Sex gut war oder nicht, wenn man beobachtet, wie man sich danach fühlt.
Auf das Hinterher achten
Wir haben die Tendenz, darüber hinwegzusehen, wie es uns nach dem Sexakt geht. Wie fühlen wir uns? Was geschieht in mir, und was passiert zwischen uns? In den Seminaren weise ich die Paare immer daraufhin: „Das Hinterher ist euer Lehrer!“ Und nicht der Seminarleiter – mein Partner oder ich.
Wenn Mann und Frau darauf achten, wie es ihnen nach dem Sexakt geht, werden sie Erkenntnisse darüber bekommen, was wirklich „guter“ Sex für sie ist und wodurch die verschiedenen Zustände beeinflusst werden. Wenn ihr nach dem Liebemachen manchmal ein Gefühl von Distanz spürt und zu anderen Zeiten ein Gefühl von Nähe – was könnt ihr daraus schließen?
Überprüft eure gemeinsame Erfahrung und seht, was ihr daraus lernen könnt. Mit der Zeit werdet ihr eine völlig neue Sichtweise vom Sex bekommen – allein dadurch, dass ihr eure Empfindungen verstehen lernt. Dann verändert sich die obige Fragestellung dahingehend: „Wie lässt sich die wohltuende Wirkung des Sex auf jeden Augenblick meines Lebens, auf den ganzen Tag, ob im Bett oder außerhalb, ausdehnen? Wie kriege ich das Beste aus dem Sex als menschliches Wesen, nicht nur als menschliche Maschine?“
Kürzlich erhielt ich eine Email von einem australischen Paar, die ein Beitrag dazu sein kann, dass Frauen sich entspannen und Männer mutiger werden. Die beiden hatten im Internet einen Ausschnitt meines ersten Buches, Zeit für Liebe, entdeckt und dazu schrieb mir der Mann Folgendes:
„Wir haben uns das alles ausgedruckt und mit in den Urlaub genommen. Allein schon dieser Gedanke des Loslassens aller Zielorientiertheit war eine Offenbarung für unser intimes Beisammensein. Es hat die spirituelle Sensibilität unseres Liebemachens enorm gesteigert – und damit die schiere Lust und Schönheit, jeden einzelnen Augenblick um seiner selbst willen zu genießen. Die Schönheit einer jeden Berührung und Liebkosung zu empfinden, jeden Kuss von Augenblick zu Augenblick zu erspüren, die Süße des Körperkontakts zu fühlen, statt dass jede Handlung nur ein weiterer Schritt auf dem Weg zum Orgasmus ist.
Die Bereitschaft, alle Ziele loszulassen und uns von einem Augenblick zum nächsten führen zu lassen, hat uns in jedem Moment neue Lust gebracht und allen Leistungsdruck beseitigt. Wir sind seit fast fünfundzwanzig Jahren verheiratet und die spirituelle Dimension war uns immer wichtig, aber es ist so leicht, in dieses westlich ausgerichtete Zieldenken zu verfallen, das sich bei allem, was wir tun, zeigt. Und so vieles vom westlichen Ansatz zum Thema Sex, das wir gelesen haben, ist zielorientiert.
Öffne dich für den neuen, anderen Weg, dann kann auch dein Mann anfangen, sich selbst auf eine neue Art und Weise zu erleben. Bedenke, dass man eine Kostprobe braucht, um auf den Geschmack zu kommen. Lass dich also nicht vom üblichen, männlich dominierten Sexstil herumkriegen. Eine wirkliche Frau steht dabei auf verlorenem Posten. Und wenn sie nachgibt (oder aufgibt), sind beide Verlierer, der Mann ebenso wie die Frau; keiner gewinnt wirklich etwas dabei.
Der Orgasmus ist ein göttliches Geschenk, ein Tropfen vom allersüßesten Nektar. Man kann ihn nicht einfordern, für selbstverständlich nehmen oder hinter ihm herjagen. Wenn man seine sexuellen Erwartungen zu hoch steckt, müssen auf das Nicht-erreichen Frustration, Elend und Enttäuschung folgen. Es muss nicht jedes Mal, wenn wir Liebe machen, zum Orgasmus kommen. Eine entspannte, offene, erwartungslose Haltung schafft das richtige Milieu für eine orgasmische Erfahrung. Darum verändere dein Denken über den Orgasmus. Wenn du das nächste Mal Sex hast, probiere mal etwas Ungewöhnliches: Vergiss einfach den Orgasmus. Vermeide Empfindungen, die dich auf den Höhepunkt vorbereiten. Vermeide es, den Orgasmus anzusteuern, sobald der Mann in dich eingedrungen ist.
Sei im Augenblick der Penetration so empfänglich und einladend, wie du nur kannst, und richte deine ganze Aufmerksamkeit in die Vagina. Beobachte in dir all die winzig kleinen, zellulären Phänomene, die sich in jedem Augenblick in deinem Körper ereignen. Die Zeit setzt sich aus millionenfach aneinander gereihten magischen Augenblicken zusammen, deren Einzelheiten sich ununterbrochen wandeln und zu einer ständigen Quelle von Freude und Genuss werden können. All die inneren Veränderungen bewusst mitzuerleben macht aus der sexuellen Erfahrung eine organische Einheit.
Ein Orgasmus muss nicht unbedingt eine dramatische Explosion, ein Vulkanausbruch, sein. Er tritt auch als ruhiges, kühles, friedliches, entspannendes Tal in Erscheinung, in dem der Körper leicht wie eine Feder dahinschwebt und sich, wie in Liebe gebadet, im Nichts auflöst. Er kann eine Erfahrung der Ewigkeit und Zeitlosigkeit sein, wo du mit dem Atem im Raum schwebst, im Einklang mit dem Puls des