Kapitalismus und politische Moral in der Zwischenkriegszeit oder: Wer war Julius Barmat?. Martin H. Geyer
Phase der Hyperinflation bis Ende 1924, als im Zusammenhang mit den neuen Reparationsvereinbarungen im Rahmen des Dawes-Abkommens amerikanische Kredite ins Land strömten und eine Phase schneller wirtschaftlicher Erholung einleiteten.
Die Zeit stand im Schatten der unübersehbaren Umverteilungswirkungen der Inflation. Wenngleich schon damals ein Urteil darüber, wer zu den Gewinnern und wer zu den Verlierern der Inflation gehörte, nicht immer einfach war, so bestand doch Einigkeit darüber, dass Julius Barmat zu den »Inflations- und Deflationsgewinnlern« gehörte. Tatsächlich machte sich nach der Revolution eine – oft übersehene – unternehmerische Goldgräberstimmung breit, die in zahlreichen Unternehmens- und Bankneugründungen, Konzernzusammenschlüssen, kreditfinanzierten Übernahmen und spekulativen, vom Wertverfall der Mark angetriebenen Aktien- und Devisengeschäften zum Ausdruck kam. Es war die Zeit charismatischer Unternehmer, die wie Hugo Stinnes oder Friedrich Flick neue große Konzerne aufbauten, von denen die meisten untergingen, einige die Zeit aber auch überdauerten. Zerstörung und Neuaufbau bedingten einander.
Wenige Themen standen in diesem Zusammenhang mehr zur Debatte als die überall auftauchenden spekulativen Energien, mithin das, was der englische Ökonom John Maynard Keynes, der in dieser Zeit mit Aktiengeschäften ebenfalls viel Geld verlor, als die eigentümlichen »animal spirits« des Kapitalismus bezeichnete.2 Diskutiert wurde das mit Verweis auf moralische und sittliche Grenzüberschreitungen im wirtschaftlichen und sozialen Verkehr: Geld- und Warenspekulationen, die meist negativ konnotiert waren, Verstöße gegen Wirtschaftsgesetze und nicht zuletzt gegen Prinzipien von »Treu und Glauben« – durch die Inflation wurde die Beziehung zwischen Gläubigern und Schuldnern radikal unterminiert. In der Kritik stand nicht zuletzt auch der Staat, der sich mittels der Inflation entschuldet hatte. Es ging um die »Grenzmoral« (Götz Briefs) einzelner Akteure und sozialer Gruppen, die sich, wenn sie nicht feststehende rechtliche wie informelle moralisch-ethische Grenzen eindeutig überschritten, doch zumindest hart am Limit des (gerade noch) moralisch Akzeptierten bewegten – klar zu unterscheiden war das in vielen Fällen nicht. Das ist im Folgenden mit dem Begriff »Grenzgänger des Kapitalismus« gemeint.
Illustrativ ist in diesem Zusammenhang eine Glosse von Thomas Mann, welche die Redaktion der Weltbühne Anfang 1925 unter dem Titel »Zu diesen Barmats« abdruckte. Kundige Leser der Buddenbrooks kannten Hugo Weinschenk, der sich wegen Versicherungsbetrugs zu verantworten hatte und der Parallelen zu Barmat aufzuweisen schien: »Daß alles ganz in Ordnung ist, muß man leider bezweifeln. Aber daß Weinschenk in dem Umfange schuldig ist, wie gewisse Leute es wollen, halte ich ebenfalls für unwahrscheinlich. Es gibt im Geschäftsleben modernen Stiles etwas, was man Usance nennt … Eine Usance, verstehst Du, das ist ein Manöver, das nicht ganz einwandfrei ist, sich nicht ganz mit dem geschriebenen Gesetze verträgt und für den Laienverstand schon unredlich aussieht, das aber dennoch nach stillschweigender Übereinkunft in der Geschäftswelt gang und gäbe ist. Die Grenzlinie zwischen Usance und Schlimmerem ist sehr schwer zu ziehen … Einerlei … wenn Weinschenk sich vergangen hat, so hat er es höchstwahrscheinlich nicht ärger getrieben als viele seiner Kollegen, die ungestraft davongekommen sind.«3
Tatsächlich wurden mit Blick auf die Geschäfte Julius Barmats intensiv die Usancen des Geschäftsverkehrs unter den Bedingungen von Inflation und Währungsstabilisierung behandelt. Aber anders als bei Thomas Manns Weinschenk ging es in seinem Fall um mehr: Nicht nur wog der Vorwurf von Täuschung, Betrug und Korruption schwer. Julius Barmat wurde zum Sinnbild eines Grenzgängers des Kapitalismus in der Nachkriegszeit. Er galt als negatives Beispiel eines politischen Kapitalismus in Form der Kriegs-, Übergangs- und durch die Inflation zerrütteten öffentlichen Kreditwirtschaft4 sowie von Misswirtschaft und Korruption im Kontext der »Privatisierung« großer Teile der aus dem Krieg herrührenden Staatsbetriebe. Sein Schicksal bestand überdies darin, dass er im Zusammenhang mit dem Skandal im Jahr 1925 von Anfang an mit den Taten anderer involvierter Personen in Verbindung gebracht wurde, zuallererst mit Iwan Kutisker und Jakob Michael, dann aber auch mit einer Vielzahl von Unternehmern, Bankern und Geschäftemachern, die auf den kapitalkräftigen Geschäftsmann setzten. In den Blick geraten damit mitunter sehr skurrile Aspekte und Geschichten, die in der politischen Kultur der Zwischenkriegszeit von Bedeutung waren.
Ein charismatisches »Konzern-Genie«?
Die Expansion des Barmat-Konzerns 1923/24
Als Julius Barmat mit seiner Familie zu Beginn des Jahres 1924 von Amsterdam nach Berlin übersiedelte, galt er als wohlhabender Kaufmann. Im Januar 1921 hatte er das Aktienkapital seiner 1916 gegründeten Amsterdamer Import- und Exportgesellschaft, der Amexima N.V., auf eine Million Gulden erhöht, wovon ein Viertel an der Börse platziert war. Der Firmensitz war Amsterdam mit Filialen in Wien, Hamburg, Berlin und zeitweise auch in New York.
Solvenz und Solidität: Arbeit am Image
Bis 1922 hatte sich Barmat auf sein seit dem Krieg systematisch erschlossenes Geschäftsfeld konzentriert: den Lebensmittel-, Textil- und Warenhandel. Dieser Geschäftszweig trat nun zunehmend in den Hintergrund und wurde ausgegliedert, und zwar in die im Februar 1922 als selbstständige Gesellschaften eingerichtete Hamburger, Berliner und die im Oktober des Jahres gegründete Wiener Amexima. Sie gingen im März 1923 zunächst in die Amsterdamer Firma Gebroeders Barmat über, wurden dann aber im Januar 1924 an die La Novita mit Sitz in Amsterdam übertragen. Diese schon vor dem Krieg gegründete Grundstücksgesellschaft entwickelte sich zu einer Art Finanzholding. Alle diese Firmen und Firmenanteile waren im Privatbesitz von Julius Barmat, der eng mit seinen Brüdern und seinem Schwager Leo de Winter zusammenarbeitete und diese in den Filialen in leitenden Positionen installierte.
Seit Beginn der deutschen Hyperinflation im Sommer 1923 erschloss Barmat in Deutschland neue, jetzt industrielle Geschäftsbereiche und zog sich aus dem operativen Handelsgeschäft in Amsterdam weitgehend zurück.5 Die Berliner Amexima wurde das neue Standbein. Sie entwickelte sich immer stärker in Richtung einer Finanzierungsgesellschaft, wobei Zukäufe von Firmen und dann zweier Banken sowie einer großen Versicherung wegweisend waren. Konsequent war, dass sich Barmat in Berlin niederließ, wo die Amexima Berlin für ihren Generaldirektor eine Dienstvilla auf Schwanenwerder kaufte.6
Die Amexima Berlin pflegte Geschäftsverbindungen mit bekannten Banken, in Deutschland unter anderem mit der Disconto-Gesellschaft und in Amsterdam mit Mendelssohn & Co. sowie dem Bankhaus Pröhl Gutmann, das wiederum in enger Verbindung mit der Dresdner Bank stand; die New Yorker Geschäfte liefen über das amerikanische Bankhaus Speyer. Im Gegensatz zu früheren Warnungen hieß es in einem Bericht des deutschen Generalkonsulats in Amsterdam, dass nach den eingezogenen Auskünften das Unternehmen günstig beurteilt werde. Julius Barmat werde als »tüchtiger Geschäftsmann« bezeichnet, der zeige, dass er »den gegenwärtigen Zeitumständen gewachsen ist«; ferner weise sein Geschäft im Vergleich zu vielen anderen »einen geregelten guten Verlauf auf«.7
Das holländische Vermögen Julius Barmats taxierten die Ermittlungsbehörden für Ende 1923 auf etwa 2,2 Mio. Gulden, was etwa 3,8 Mio. GM entsprach. Wie er später aussagte, war sein gesamtes Eigentum in seinen Unternehmen gebunden, sodass er über kein »freies Vermögen« verfügte. Letzteres soll seinen Aussagen zufolge zu Beginn des Jahres 1924 höchstens 400000 GM betragen haben. Wie auch immer man die Zahlen beurteilte, Barmat war vermögend, ja er musste, so später die Konklusion des Gerichts, als ein »für die Begriffe, die hier damals [im Deutschland der Inflationszeit – MHG] herrschten, als außerordentlich reicher Mann gelten«.8 Dieser Ruf eilte ihm voraus, und Barmat bemühte sich sehr darum, dieses für einen Geschäftsmann wichtige Distinktionsmerkmal entsprechend hervorzuheben. In Form einer Werbebroschüre, welche die Amsterdamer Amexima für ihren Chef Anfang 1924 erstellte (aber zweifellos von Barmat selbst in Auftrag gegeben worden war), wurde die Solidität des Unternehmens präsentiert: Darin fanden sich Bilder des nicht übergroßen Geschäftshauses an der Keizersgracht, vor dem ein großes Automobil geparkt war und das im Innenbereich eine funktionale und nicht übertrieben luxuriöse Ausstattung aufwies.9 Dieser Punkt ist nicht nebensächlich: Denn wirtschaftliche Solidität und Seriosität galten gerade in der Inflationszeit als knappe Güter – wie wir noch sehen werden,