Mami Bestseller Staffel 3 – Familienroman. Jutta von Kampen
Inhalt
Luisa schafft sich ein Elternhaus
Die Silhouette der mittelalterlichen Stadt Rothenburg ob der Tauber tauchte auf. In dem vollbesetzten Bus ertönte ein vielstimmiges »Ah!« und »Oh!« aus Kinderkehlen. Das Kinderheim »Alpenblick« befand sich auf einem Jahresausflug.
Munter und aufgeregt schnatterten die Kinder durcheinander. Nur ganz hinten saß ein kleines Mädchen, das sich an der allgemeinen Aufregung nicht beteiligte.
Blaß und zart, zu klein für ihr Alter, ewig verträumt und deshalb von den anderen Kindern immer unterdrückt und nie für voll genommen, fristete Veronika ein kümmerliches Dasein am Rande der fröhlichen Gesellschaft.
Die Vergißmeinnichtaugen sahen sehnsuchtsvoll in die Ferne. Mit einer verlorenen Geste strich Veronika die krausen, immer ungekämmt wirkenden Zottelhaare aus dem Gesicht.
»Wir steigen gleich aus!« ertönte die Stimme der Kindergärtnerin. »He, Veronika, wach auf!«
Das kleine Mädchen zuckte zusammen wie unter einem Schlag. Es reckte den Hals.
»Wir steigen aus, habe ich gesagt! Hast du das gehört?«
Das Kind nickte verstört, und die Kindergärtnerin seufzte vernehmlich. Bei diesem Kind wußte man nie, ob es begriffen hatte. Deshalb wandte sie sich an zwei größere Mädchen: »Rosi und Petra, ich lege euch noch einmal ans Herz: Paßt mir bloß auf das Schäfchen auf!«
»Ja, Tante Anni!« ertönte es wie aus einem Mund.
Der Bus hielt und das Aussteigen begann. Die großen Mädchen versetzten der kleinen Veronika ein paar Püffe.
»Los, mach schon!«
»Wegen dir alten Trödelliese sind wir immer die letzten!«
Veronika war diese Behandlung gewöhnt. Sie verhielt sich wie ein Esel, der durch Schläge angetrieben wird: Sie beeilte sich erst recht nicht.
Endlich standen alle auf dem Marktplatz. Die berühmte Uhr begann gerade zwölf zu schlagen. Zwei Fenster öffneten sich. Der Feldherr Tilly erschien an dem einen und der Bürgermeister Nusch am anderen. Der Bürgermeister hob einen gewaltigen Humpen an den Mund und leerte ihn in einem Zug. Durch diese beachtliche Trinkleistung hatte er die Stadt vor der Plünderung bewahrt. Jeden Tag um diese Stunde erinnerte die Rathausuhr an das historische Ereignis.
Die Kinder jauchzten, lachten und klatschten begeistert Beifall. Nur Veronika stand mitten in der Menge und sah nur die Röcke der Großen. Niemand dachte daran, sie hochzuheben oder nach vorn zu lassen.
Der Zug der Kinder setzte sich wieder in Bewegung. Die beiden großen Mädchen, Rosi und Petra, nahmen die Kleine in ihre Mitte. Immer wieder versuchte Veronika, einen Blick in die herrlichen bunten Schaufensterauslagen zu werfen. Sie mußte dazu natürlich einen halben Schritt zurückbleiben und erntete jedesmal einen Knuff.
Die Gruppe erreichte die alte Stadtmauer. Eine enge Treppe mußte erstiegen werden, und die strenge Ordnung löste sich zwangsläufig auf. Mit Hurra und Gepolter rannten die Kinder den hölzernen Wehrgang entlang.
Die beiden Mädchen, die auf Veronika achten sollten, vergaßen die lästige Pflicht.
Durch die schmalen Schießscharten in der Mauer konnte man weit über das Tal sehen. Auf der anderen Seite blickte man auf die leuchtendroten verwinkelten Dächer, auf kleine Höfe und Gärten, in denen Gartenzwerge, Förster und Rehe ein gipsernes Dasein fristeten.
Die Kinder waren hinreichend beschäftigt, dies alles zu bewundern. Und als Veronika Rosi am Kleid zupfte, reagierte das größere Mädchen reichlich unwirsch. »Was willst du denn schon wieder?«
Veronika trat von einem Bein auf das andere. »Ich muß mal!«
»Hier geht das nicht!«
Unbekümmert lief Rosi weiter, und Veronika geriet in größte Nöte. Ratlos sah sie sich um. Was tun?
Sie erreichten einen Turm, durch den der Wehrgang führte. Veronika sah sich um. Die anderen waren voraus…
Die Angelegenheit war schnell erledigt. Aber nicht schnell genug. Denn die anderen Kinder waren nicht mehr zu sehen.
An der nächsten Treppe stieg sie von der Stadtmauer. Sie lief über das Kopfsteinpflaster. Die Mittagssonne brannte heiß. Plötzlich entdeckte Veronika einen sprudelnden Brunnen. Das kristallklare Wasser lief durch ein Rohr in einen Holztrog. Bei diesem Anblick verspürte das kleine Mädchen Durst. Es stellte sich auf die Zehenspitzen und erreichte den Strahl mit dem Mund. Es schmeckte herrlich!
Dann steckte Veronika ihre Hände in den Trog und spielte mit den Strohhalmen, die auf der Wasseroberfläche schwammen, Schiffchen. Wenn sie nicht gestört wurde, hielt sie es bei einem Spiel lange aus.
Endlich hatte sie es doch satt. Sie schlenderte weiter. Aus einem Laden roch es herrlich nach frischem Brot. Veronika spürte ihren leeren Magen. Ihre hellblauen Augen verdunkelten sich.
Wenn man sie nicht fand – ob sie dann verhungern mußte?
Kurz entschlossen betrat Veronika das Geschäft, in dem viele Leute waren. Veronika bemerkte, daß sie alle möglichen Dinge in den Korb packten, ohne zu bezahlen. Doch die meisten Sachen interessierten das kleine Mädchen nicht. Nur vor dem Korb mit knusprigen Brötchen blieb sie stehen. In Gedanken biß sie in eins der goldgelben Brötchen; ihr lief das Wasser im Munde zusammen.
»Na, Kleine, du hast wohl großen Hunger?« fragte plötzlich eine Verkäuferin.
Veronika zuckte zusammen – wie immer, wenn sie aus ihren Träumen gerissen wurde. Dann nickte sie heftig.
»Wo ist denn deine Mutter?« wollte die freundliche Verkäuferin wissen.
Veronika machte ein völlig ratloses Gesicht. Was sollte sie darauf antworten? Sie kannte nur Tanten.
»Sie ist wohl schon ’rausgegangen«, meinte die Verkäuferin. »Dann aber schnell hinterher!«
»Darf ich…?« fragte Veronika und erschrak über ihren eigenen Mut.
»Na, wenn der Hunger so groß ist, daß du sogar trockene Brötchen magst! Greif nur zu!«
Veronika wußte nicht, wie ihr geschah. Sie griff nach einem Brötchen und biß gierig hinein. Herrlich! Kein Kuchen hatte jemals so gut geschmeckt.
»Nun lauf aber!« Die Verkäuferin schob das kleine Mädchen aus der Tür.
Veronika fühlte sich nun, da der ärgste Hunger gestillt war, bedeutend wohler. Sie bummelte