Wir sind die Flut. Annette Mierswa
»Von wem beachtet? Trump? Bolsonaro? Die Brasilianer wollen sogar noch mehr Regenwald abholzen, vor allem für Soja und Rindfleisch. Damit wir auch weiterhin dreimal am Tag Fleischlappen in uns reinschaufeln können. Und hier bei uns traut sich ohnehin keiner was Großes. Es könnte ja Wählerstimmen kosten und der AfD in die Hände spielen.« Saskia nahm ihre Tasche und machte Jonas ein Zeichen, der an der Tür stand und wartete.
»Und deshalb schauen wir lieber tatenlos zu, bis uns das Wasser bis zum Hals steht, oder was?« Ich sah Hilfe suchend zu Leon, der nur zaghaft nickte. »Wollt ihr einfach aufgeben?«
Saskia zog die Schultern hoch. Ben, Besat und Lela verließen murmelnd den Raum. Sally blickte schweigend auf ihr Handy. Leon suchte etwas in seinen Hosentaschen und Maya legte mir eine Hand auf den Rücken.
»Du solltest mal wieder mit zum Tanzen kommen. Das bringt dich auf andere Gedanken.«
Ich blickte sie an. »Maya, nee jetzt. Du auch?«
»Ich hab ehrlich gesagt keinen Bock mehr, immer am Wochenende den Stoff nachzuholen und dafür jedes Mal Tanzen sausen zu lassen.« Sie sah mich traurig an und packte ihre Sachen ein.
Hinter ihr, an die Wand gelehnt, stand Kruso und blickte aus dem Fenster.
»Und du?«
Er drehte sich langsam zu mir um und schien zu rätseln, ob ich tatsächlich ihn meinte. »Ich kann nicht, werde auf dem Hof gebraucht.«
»Ach ja, ich vergaß«, sagte ich grimmig, »der geht ja auch nicht unter, stimmt’s?« Kruso sah mich mit großen runden Augen an.
Ich gab es auf und wandte mich Leon zu. »Aber wir treffen uns doch morgen, oder?«
»Klar. Ich erzähl dir was über die Landwirtschaft und du …« Er schwenkte seine Karte vor meinen Augen.
»Abgemacht. Aber nach der Demo.« Er rollte mit den Augen. »Du kommst doch mit, oder?«
»Zu deinem persönlichen Schutz.«
»Sehr witzig.«
»Aber Schwimmflügel ziehe ich nicht an.« Er wedelte mit angewinkelten Armen wie ein flatterndes Entchen. »Vielleicht lieber einen Rettungsring, in den wir beide reinpassen.« Er legte seine Arme um mich wie einen Ring, ließ sie aber gleich wieder auseinanderschnellen und wich einen Schritt zurück. In seinen Wahrsagekugeln peitschte die See, genau wie in meinem Herzen. »Wie wär’s nachher mit einem Eis?«
»Oh ja, was Kühles kann ich gut gebrauchen.« Ich blickte auf die Uhr an seinem Handgelenk. »Ach nein, nach der Schule ist gleich unser Planungstreffen. Komm doch einfach mit.«
»Zu den Froschmännern? Nee, lass mal. Bei den Demos dein Bodyguard zu sein, reicht mir völlig.«
»Es geht ja nicht um mich, sondern um unsere Zukunft.«
»Oh«, er grinste, »die sieht bei mir rosig aus.«
»Ach ja?« Ich hielt ihm meine Ackerkarte vor die Nase. »Nicht eher weizig als rosig?«
Er nahm einen roten Kugelschreiber aus seiner Tasche und zeichnete eine kleine Rose in das Kornfeld. »Nein, rosig.«
7
Das Planungstreffen der Aktivisten fand bei Alice statt, einer rot gelockten Paradeanführerin, die mich an die Rote Zora aus meinem Lieblingsbuch erinnerte. Sie hatte gerade ihr Abi gemacht und wohnte in einem Haus, das komplett mit Efeu und wildem Wein überwuchert war und eine alte Scheune im Hinterhof hatte – die Schaltzentrale unserer Aktivitäten. Wir saßen auf Strohballen, tranken frischen Minztee aus Emailletassen und zwischen uns auf dem lehmigen Boden lag eine Karte von Hamburg, auf der die Stellen markiert waren, die in nicht so ferner Zukunft überschwemmt werden würden.
»Toll, dass wir schon so viele sind«, sagte Alice. »Die Aktion hat sich gelohnt. Jetzt dürfte auch der Letzte in der Schule wissen, dass es uns gibt.« Ich zählte 27 Teilnehmer, von denen viele johlten und klatschten. »Wir begrüßen unsere neuen Mitglieder und erklären euch kurz, was wir vorhaben.« Sie blickte mich direkt an. »Wir wollen auswandern, auf sicheres Terrain, und dort ein Protestcamp errichten. Die Stelle soll erhöht liegen, an einem Punkt, der später eine Insel werden wird, wenn das Wasser steigt. Dort werden wir zwei Wochen am Stück campieren und versuchen, so viel Aufmerksamkeit wie möglich zu bekommen. Kenyal, der YouTuber, hat schon zugesichert, ein Video darüber zu machen. Danke für den Kontakt, Yoda.« Sie nickte Yoda zu, die neben mir auf demselben Strohballen saß. Manche klatschten.
»Und die Schule?« Ein Junge aus der Zehnten, den ich aus dem Sportverein kannte, meldete sich.
»Die Schule wird in der Zeit bestreikt«, sagte Alice, »ist doch klar. Sonst kümmert die Aktion keine Sau.«
Ein blondes Mädchen stand auf. »Und wo genau soll das Zeltdorf sein?«
Alice zeigte auf die Karte. Drei Stellen waren rot eingekreist. »Es gibt folgende Möglichkeiten.« Sie tippte mit der Spitze eines Stocks auf eines der Felder. »Hier ist ein Wald. Keine Häuser, keine Wiesen. Ein schwieriges Terrain. Und da …« Sie zeigte mit dem Stock auf ein anderes Feld. »Da gibt es ein paar Häuser mit privaten Gärten und dazwischen Straßen und einen Parkplatz. Das wäre eine Möglichkeit. Aber am besten wäre es«, sie tippte auf das letzte rot umkreiste Feld, »wenn wir hier unser Lager aufschlagen würden. Da ist ein Bauernhof. Wir müssten herausfinden, wem er gehört, und fragen, ob wir dort zelten dürfen. Da es auf dem Hügel viele Felder gibt und kaum Bäume, würden wir sicherlich am meisten auffallen. Außerdem hat die Landwirtschaft ja auch viel mit dem Klimawandel zu tun. Vielleicht können wir das verbinden.«
Ich starrte auf die Karte. Ich wusste genau, wem der Hof auf dem Plateau gehörte. Mein Herz klopfte, als ich mich zu Wort meldete. »Das ist der Hof der Rusowskis. Einer der Söhne geht in meine Klasse. Kruso.«
»Das ist ja genial!« Alice klatschte in die Hände. »Du bist unsere Mittlerin.« Sie kam zu mir herüber. »Du kommst genau im richtigen Moment.«
Meine Knie zitterten. Es war das erste Mal, dass ich das Gefühl hatte, wirklich etwas beitragen zu können. Auf den Demos war ich ein Pünktchen im Meer der Masse. Ich schwamm mit, ohne den Verlauf der Strömung zu beeinflussen, verließ mich darauf, dass die größeren Fische das schon erledigten. Natürlich mit unserer Unterstützung. Und das war bisher auch okay gewesen. Aber seit die Düsternis mich heimsuchte, verlangte alles in mir nach mehr. Entweder aufgeben oder richtig loslegen. Das war meine einzige Chance. Kruso baute ein Boot. Ich würde ein Zeltdorf errichten – gegen die Angst.
»Hey, das ist der Hof der Gestörten, oder? Der Bruder hat doch damals die Scheiße angeschleppt.« Ein großer Kerl mit breiten Schultern blickte mich an.
»Ob da wirklich jemand gestört ist, werden wir dann ja feststellen«, mahnte Alice, woraufhin sie wieder mich ansah. »Sprich so schnell wie möglich mit Kruso, ja? Wir wollen schon in gut einer Woche loslegen. Am besten wäre es, er würde selbst mitmachen.«
»Ich spreche mit ihm.« Aufregend war das, neu, belebend. Aber auch verwirrend und beunruhigend. Nun hing etwas von mir ab, etwas Großes und Wunderbares. Ich durfte das nicht vermasseln. Es würde bestimmt nicht einfach werden. Kruso war unser Outlaw, ein Einzelgänger und Traumtänzer. Niemand war mit ihm befreundet, keiner wusste etwas über ihn. Nicht einmal Leon, der ja sozusagen nebenan wohnte, auch wenn die Wohnhäuser ein paar Hundert Meter auseinanderlagen. Nur dass er der zweite Sohn eines Bauern war, wussten alle, denn Krusos Bruder hatte vor drei Jahren eine Ladung Mist vor dem Lehrerzimmer abgeladen, nachdem er von der Schule geflogen war. Das hatte Kruso traurige Berühmtheit beschert und er war seitdem der bemitleidenswerte und offensichtlich traumatisierte Bruder des gestörten ältesten Rusowskisohns und stand daher unter ständiger Beobachtung der Lehrer.
»Kruso passt ja wie Arche zu Noah.« Yoda sprang auf. »Wie hieß denn Robinsons Insel?«
»Gute Idee. Das finden wir heraus.« Alice sah mich an. »Du machst doch mit, oder?«
»Ja«, sagte