Die falsch gestellten Weichen. Von Kuehnelt-Leddihn Erik

Die falsch gestellten Weichen - Von Kuehnelt-Leddihn Erik


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war hingegen der Lehrer des großen Anarchisten, des Fürsten Kropotkin.6) Marxens Haß auf die Russen geht auf diese Auseinandersetzung mit Bakunin zurück, der 1872 von der Ersten Internationale ausgeschlossen wurde…, kein Wunder, denn Bakunin sah sehr genau, daß der Marxismus stracks zum allmächtigen, totalitären Staat führen würde.

      Bakunin war ein abenteuerlicher Mann, und das war auch Ferdinand Lassalle. Dieser Sohn eines jüdischen Kaufmanns, Intellektueller ersten Ranges, Organisator der deutschen Arbeiter, öfters angeklagt wegen politischer Umtriebe, meistens freigesprochen, mutig, witzig, ein großer Liebhaber des schönen Geschlechts und Theaterschriftsteller, wurde von Marx als auch von Engels leidenschaftlich gehaßt und zweifellos auch beneidet. Lange einer Gräfin Hatzfeld verbunden, deren Advokat er auch war, fiel er schließlich in einem Duell mit einem Rumänen in der Nähe von Genf. Das Herz und die Hand von Helene von Dönniges, Tochter eines bayrischen Diplomaten, waren die Ursache dieses Zweikampfs gewesen.

      Lassalle war vielleicht kein Genie, doch hatte er einen guten Kopf und veröffentlichte mehrere politische und gesellschaftskritische Essays, wie auch ein Buch über Heraklit, das im Geiste der Philosophie Hegels geschrieben war. Lassalles Haltung war national und sozialistisch zugleich; er lehnte auch die Monarchie keineswegs ab und appellierte an Wilhelm I. von Preußen, eine „soziale Monarchie“ zu errichten. Bismarck, mit dem er einen engen Kontakt hatte, sagte in seiner Gedenkrede im preußischen Landtag, Lassalle sei durch und durch Monarchist gewesen, nur hätte er nicht gewußt, ob Preußen von der Dynastie Lassalle oder Hohenzollern hätte regiert werden sollen. Doch dieser brillante Mann war Marx ein Dorn im Auge. Hätte er länger gelebt (er starb im Alter von 39 Jahren), würde die deutsche Arbeiterbewegung eine ganz andere Entwicklung genommen haben, zwar auch eine „nationalsozialistische“, aber ganz und gar nicht im Sinne Hitlers. Als Lassalle 1864 im Zweikampf gefallen war, verlor Marx seinen stärksten Konkurrenten. Erst drei Jahre später wurde der erste Band von Das Kapital in seiner endgültigen Fassung veröffentlicht.

      Der alternde Marx war eine tragische, zugleich aber eine alles andere als erbauliche Figur. Das Fiasko der Pariser Commune erschütterte und verbitterte ihn. Freunde außer Engels hatte er keine. Er hatte eine tiefe Zuneigung zu seinen drei Töchtern, von denen zwei später durch Selbstmord endeten. Sein einziger legitimer Sohn, für den er aber nichts übrig hatte, starb mit acht Jahren, nicht zuletzt aus Geldmangel. Seine Frau, die ihn vergötterte, führte ein Höllendasein. Zudem verführte er die getreue Haushälterin, Lenchen Demuth, die ihm einen Sohn gebar, dessen Vaterschaft Engels übernahm, denn man konnte damals einer deutschen Arbeiterschaft nicht zumuten, einen Ehebrecher und Verführer von Hausangestellten als ihren Führer anzuerkennen.7) (Erst auf dem Totenbett gestand Engels den völlig aus den Wolken gefallenen Töchtern, daß ein ihnen so bekannter junger Mann ihr Halbbruder war.)8) Das idealisierte Familienleben Marxens ist heute als häusliches Jammertal demaskiert worden; die arme Jenny Marx, nêe baronne Westphalen (wie es tatsächlich auf ihrer Visitkarte zu lesen war) lebte in einem wahren Inferno der Armut, denn der gute Karl konnte sich nicht dazu aufraffen, für seine Familie einen Lebensunterhalt zu verdienen. Dabei aber war dieser Proletarierführer ein Snob, der sich teure Anzüge bauen ließ. Neueste Forschungen geben uns das Bild eines im Grunde eitlen, widerlichen, haßerfüllten Menschen. Jean Paul sagt uns in seinem Quintus Fixlein: „Jedem Jahrhundert sendet der Unendliche einen bösen Genius zu, der es versucht.“ Ähnlich äußerte sich auch Goethe.9) Zweifellos war Marx dieser Mann, dessen konkrete Prophezeiungen fast ausnahmslos nicht in Erfüllung gingen, der also logischerweise völlig diskreditiert sein müßte und nach dem kein Hahn mehr krähen sollte, der aber dennoch heute vielleicht lebendiger und „aktueller“ ist als vor hundert Jahren. Das hat seine guten Gründe, als da sind: die Dummheit (die größte Weltmacht), das kurze Gedächtnis der Menschen und die Begeisterungsfähigkeit für „klare aber falsche Ideen“. So glaubt auch heute noch der Mann auf der Straße, daß das „Sozialproblem“ seine Analogie in einer Gefängniszelle mit vier Arrestanten besitzt, darunter einem bärenstarken brutalen Kerl. Dieser nimmt mit roher Gewalt die Hälfte der Portionen seinen Zellengenossen weg und frißt sie selbst auf. Aber nur ein Idiot wird dieses Exempel auf die freie Wirtschaft in einem freien Land übertragen, denn das ist ein mindestens so großer Unsinn wie das „Recht auf Arbeit“. (Wie verwirklicht man das im Falle eines Schriftstellers, Schauspielers, Trapezkünstlers oder Augenarztes?) Doch der Marxismus kommt einem echten Bedürfnis nach: Er „erklärt“ dem Einfältigen die ihm ansonsten sinnlos erscheinende Weltgeschichte und füllt überdies ein ideologisches Vakuum aus, das von echt aufbauenden Ideen erfüllt werden sollte. Doch darüber später mehr.

      Die Wirtschaft spielt im Gedankengut Marxens noch vor der Philosophie und der Politik die Hauptrolle, aber sie ist überraschenderweise das schwächste Glied in dieser Kette. Daher auch die Armut in der Welt des Sozialismus, was ihn eigentlich diskreditieren sollte. Der Mensch jedoch ist eher ein fühlendes als ein denkendes Wesen und der Sozialismus kommt den neidigen Massen entgegen. Wie sagte doch Churchill? „Der Kapitalismus verbürgt die ungleiche Verteilung des Reichtums, der Sozialismus aber die gleiche Verteilung der Armut.“ Daher seine Stärke!

      9. DIE NATIONALDEMOKRATIE

      Der Vormärz Europas, die Periode vor dem Wiener Kongreß bis zum Revolutionsjahr 1848, erweckte, wie wir schon sagten, den Anschein einer Konsolidierung des Ancien Régime in einer erneuten Form, und dies obwohl bald da, bald dort ein Wetterleuchten zu sehen war. Das Bürgertum hatte sich mit der leicht veränderten Ordnung trotz der Romantik noch nicht abgefunden. Zwar sprach man allenthalben noch mit großem Abscheu über die gräßlichen ‚Auswüchse‘ der Französischen Revolution, aber die Gestalt Napoleons hatte doch überall (auch in den Ländern, die von ihm unterjocht worden waren) einen nachhaltigen Eindruck hinterlassen. In der Erinnerung lebte er nicht nur als militärischer Heros, sondern auch als Mediator der Französischen Revolution, in einer gemilderten Form auch als ‚Reformator‘. Was nun blieb, war der Code Napoléon im Rheinland (bis auf unsere Tage), die Zusammenlegung zahlreicher Herrschaften im Süden und Westen des Deutschen Bundes (aber nicht in seiner Mitte), es blieben die allgemeine Wehrpflicht und auch eine beginnende Verbürgerlichung des Offizierskorps und es kam, abgesehen von der industriellen Revolution, langsam ein Näherrücken der Staaten und Völker durch die Eisenbahn. Vor allem aber kam eine Steigerung des Nationalgefühls als kollektive Kraft nicht neben, sondern mit der Demokratie. Volksherrschaft und völkische Herrschaft sind verwandte Begriffe. Das Bürgertum war zusehends demokratisch und national gesinnt. Während aber nun in Frankreich die Revolution von 1848 einen vorwiegend demokratischen Charakter trug, hatten, die Revolutionen in Mitteleuropa einen ebenso demokratischen wie nationalen, im östlichen Mitteleuropa wie auch in Italien einen betont nationalen Charakter – wohl auch mit einer Spitze gegen die „fremde Dynastie“. Diese Revolutionen wurden alle niedergeschlagen, es folgten Jahre der „Reaktion“, doch die Sache der demokratisierten, also der konstitutionellen Monarchie (wenn auch noch nicht der Republik) machte nach diesem Rückschlag weitere Fortschritte. Außer in Frankreich war es allenthalben deutlich, daß diese „Erhebungen“ noch keinen echten Massencharakter hatten. In Frankreich allerdings gingen die Uhren anders: Dort war nicht nur die Erinnerung an die Französische Revolution noch lebendig; dort gab es in den großen Städten ein echtes Proletariat.1) (Auch in England rührten sich die Chartisten im Jahre 1848 zum letztenmal.) Deshalb fand die achtundvierziger Revolution in Frankreich in zwei Wellen, einer bürgerlichen und einer proletarischen, statt. Die proletarische wurde zweimal (1848 und 1851) in großen Blutbädern niedergekämpft. Die Bitternis, die davon übrigblieb, führte 1871 zur Pariser Kommune. Mitteleuropa blieb von diesem neuen Phänomen verschont. Es sei aber auch hier vermerkt, daß die Monarchen stets mit überraschender Leichtigkeit abdizierten, während die bürgerlichen Kräfte ein viel stärkeres Stehvermögen zeigten.2)

      Nun aber war um die Jahrhundertmitte das Bürgertum ein starker und im weiteren Sinn des Wortes auch ein elitärer Stand, der sich in einer freien Wirtschaft durch eine hohe Selektion auszeichnete. Auch hatte das Bürgertum eine asketische Tradition, die im Adel nur bruchstückhaft vorhanden war. Dieses bürgerliche Selbstbewußtsein schwächte sich zwar im 19. Jahrhundert ab, als es sich – zum Teil erfolgreich – an den Adel zu assimilieren suchte, adelige


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