Die falsch gestellten Weichen. Von Kuehnelt-Leddihn Erik

Die falsch gestellten Weichen - Von Kuehnelt-Leddihn Erik


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Familie Bonhoeffer in Schwäbisch-Hall an!) Dazu kamen die Nobilitierungen, die besonders in Österreich und Bayern sehr häufig waren und bewußt zur Elitenbildung beitrugen. Davon zeugen zum Beispiel die Standbilder der berühmten Professoren vor der Wiener Technischen Universität. Von acht der dort vertretenen Männer waren sieben Adelige oder Geadelte.3) Und von der Wiener Ökonomischen Schule waren oder sind fast alle Leuchten adeliger Herkunft.4))

      Es war nur zu natürlich, daß das zu Bildung und Vermögen gekommene Bürgertum einen Platz an der Sonne und an der Ausübung der politischen Gewalt ein Mitspracherecht haben wollte. Tatsächlich beendete die Revolution von 1848 alle adeligen Privilegien mit der Ausnahme der Fideikommisse, eine Einrichtung, die im Grunde jedem Engländer offenstand und bei uns nur dank unseres Erbrechts ein Privileg darstellte.5)

      Doch der Nationalismus, durch die napoleonischen Kriege auch im Herzen Europas wachgerufen, fand östlich des Rheins einen noch stärkeren Widerhall als die Demokratie, und zwar ganz besonders dort, wo es eine „Fremdherrschaft“ gab. Je weiter östlich und südlich, desto stärker der „Nationalismus“. Die Bindungen – und das war neu – waren nun nicht mehr vertikal, sondern horizontal. Staat und Volk wurden zunehmend gleichgesetzt, die Stände wichen den Klassen und man beschnüffelte sich nun nach der „Volkszugehörigkeit“. Geschichtliche Grenzen bedeuteten weniger und weniger. Ein „vaterloses“ Herdengefühl machte sich allenthalben bemerkbar. „Welche Sprache sprichst du? Welcher Sitte folgst du?“ Das waren die Fragen, die nunmehr gestellt wurden und nicht vielleicht: „Welchem Herren dienst du?“ Und da war auf einmal dem Mann aus Aussig der Dresdner „näher“ als ein Tscheche aus Prag – obwohl der Aussiger und der Prager beide Böhmen waren. Der Serbe aus der Vojvodina sah nicht mehr nach Buda, sondern schielte nach Belgrad, dem Triestiner lag Rom oder Turin näher als Wien. Gottfried von Herder hatte schon früher die Slawen „entdeckt“. Die Teilungen hatten den Patriotismus6) der Polen zwar nicht aufgehoben, aber illusorisch gemacht. Es blieb ihnen nun als „Bindemittel“ nur mehr der Nationalismus übrig, der sich mit der Zeit aber nur religiös oder sozialistisch ausrichten konnte. Die Gleichsetzung des Polentums mit der Kirche war in Hinsicht auf die russische und die preußische Teilungsmacht höchst natürlich, die sozialistische Tendenz in der Abwehr der Petersburger Spaltungstendenzen auch nicht überraschend, versuchte doch die russische Regierung, das Bauerntum gegen den Grundbesitz und die Städter aufzuhetzen. Es entwickelte sich daher ein polnischer „nationaler Sozialismus“, der auch im Adel7) und im Bürgertum Unterstützung fand. Der Widerstand sollte „kollektiv“ werden. Zweifellos aber brachte der Nationalismus unsägliches Elend über Europa: Er war schon ein Faktor im Ersten Weltkrieg, wurde aber mit 1918 ein entscheidendes Element in der Großen Europäischen Dauerkrise.

      Das nationale Problem berührte aber vor allem das seit 1804 bestehende „Kaiserthum Österreich“. Franz IL, Römischer Kaiser, nahm damals in Hinsicht auf die Tatsache, daß Napoleon auch die römische Kaiserwürde anstrebte8) und daß auch alle deutschen Fürsten mit Ausnahme des preußischen Königs Vasallen Napoleons waren, den Titel eines Kaisers von Österreich an. Zwei Jahre später, nach der Gründung des Rheinbunds, entsagte er der römischen Kaiserwürde. Damit war das Ende des Ersten Reichs gekommen. 1815 wurde das Römisch-Deutsche Reich trotz Protestes des Nuntius nicht erneuert; das zentralistische Kaisertum Österreich, das Königreich Preußen und der Deutsche Bund nahmen seinen Platz ein. Der „Kaiser“ residierte allerdings weiter in Wien, der Doppeladler, die Volkshymne und die Schwarzgoldenen Farben waren auf Österreich übergegangen, und der österreichische Delegierte war in Frankfurts Paulskirche ex-officio der Vorsitzende bei den Versammlungen des Deutschen Bundes. Doch nach der Bildung des neuen Kaisertums, das sicherlich historisch-organisch gewachsen war und sich von der Grenze Piemonts bis zur Ukraine erstreckte, war kein neuer, allgemein akzeptierter Patriotismus entstanden. Die innere Struktur dieses neu-alten Gebildes war nicht sorgfältig durchdacht und in so vieler Beziehung fragwürdig. Das einigende Band der gemeinsamen Dynastie, die weithin gemeinsame Religion und die Armee9) genügten nicht, um schwersten Niederlagen und größtem Druck standzuhalten.

      Man darf nicht vergessen, daß zum Beispiel ein Ungar einem Land angehörte, das 896 gegründet wurde und seit 1001 ein Königreich war, ein Land mit Grenzen, die Élisée Reclus, der große französische Geograph, für die idealsten Europas hielt. Die heilige Wenzelskrone, die Böhmen, Mähren und Schlesien verband, ging ins 10. Jahrhundert zurück. Kroatien mit Dalmatien und zum Teil mit Bosnien war einer der ältesten Staaten Europas. Auch das nunmehr geteilte Polen existierte schon im 10. Jahrhundert – von der Republik Ragusa ganz zu schweigen.10) Im Vergleich zu diesen uralten Staatswesen war selbst das alpine Österreich ein historisches Flickwerk, recht neu, ein Land das erst im 14. Jahrhundert Tirol einverleibt hatte und Salzburg gar erst mehr als 400 Jahre nach dem friedlichen Anschluß von Triest. (Ohne Habsburg hätte Österreich zweifellos nicht über das Salzkammergut hinausgereicht!) Allerdings waren Triest, die Küstenlande und was heute Slowenien genannt wird alte habsburgische Erblande. Der böl mische König war Kurfürst des Römisch-Deutschen Reiches, der österreichische Erzherzog war es nicht. Zudem war der österreichische Erzherzogstitel auf dem gefälschten Privilegium Maius gegründet. Die „Erblande“ waren Erbgut der schweizerischen, dann schweizerisch-lothringischen Habsburger, sicherlich das vornehmste und, sagen wir es ohne Zögern, das beste und humanste Herrschergeschlecht, das Europa je hervorgebracht hatte. Aber dennoch müssen wir hier die Frage stellen: Wie konnte man von einem Ungarn (gleichgültig ob er Magyare oder Nichtmagyare war), von einem Böhmen deutscher oder nichtdeutscher Zunge, von einem Dalmatiner kroatischer, italienischer oder serbischer Abstammung verlangen, sich als „Österreicher“ zu fühlen? Das war nicht nur für „national“, sondern auch für geschichtlich denkende Menschen nicht allzu leicht. Es war dies einfacher bei Soldaten oder bei Beamten, die einen Eid dem gemeinsamen Herrscher geleistet hatten und zu ihrem Monarchen in einer Art von Feudalverhältnis standen. Mit dem katholischen Klerus war das wieder anders: Dieser entstammte zumeist dem mittleren (zumal auch den unteren, bäuerlichen) Schichten, und da waren nationalistische Tendenzen nicht selten. Das war besonders dort der Fall, wo es keinen „nationalen“ Adel gab, wie zum Beispiel in der Slowakei und in Slowenien,11) und der Klerus somit als Erster und Zweiter Stand auch eine politische Führerrolle innehatte. Auch gab es in der Monarchie einen besonders starken Nationalismus der nichtkatholischen Gebiete, wie in den reformierten Komitaten Ungarns, der lutherischen Nordwest-Slowakei, den Überresten der Reformation in Böhmen und Mähren, denn die Dynastie hatte schließlich die Gegenreformation „am Gewissen“.

      Doch war die Lage innerhalb des Kaisertums Österreich insoweit noch komplizierter, als es ein flüchtiger Blick vermittelt, weil es innerhalb seiner historischen Kronländer ethnische Minderheiten gab, was sich gerade im Jahre 1848 explosiv auswirkte. Der Aufstand der „nationaldemokratischen“ Tschechen in Prag fand keinen Widerhall bei den Deutschböhmen und Deutschmährern. Der ungarische Aufstand fand Slowaken, Siebenbürger Rumänen, südungarische Serben und Kroaten auf der Seite der Habsburger und der Wiener Regierung…, nicht aber die große Mehrheit der ungarländischen Deutschen.12) Es muß auch vermerkt werden, daß bei den Aufständen der von Italienern besiedelten Provinzen Österreichs, der Lombardei und Venetiens, die Mehrzahl der Bauernschaft keine Begeisterung für das Risorgimento zeigte und wacker mit der kaiserlichen Armee kollaborierte.13) Hinter dem Risorgimento standen Bürger, Intellektuelle und ein Teil des Adels. Nach dem Sturz der Bourbonenherrschaft im Königreich beider Sizilien war das einfache Volk ganz und gar nicht auf der Seite der „Befreier“. Jahrelang hatte die neue italienische Regierung gegen höchst populäre Banden von Aufständischen (die allesamt als Briganten hingestellt wurden) zu kämpfen. In den früheren österreichischen Provinzen, wie auch in der Toskana, wo Habsburger regierten, verschlechterte sich nach dem Risorgimento die Verwaltung zusehends. Bis zum heutigen Tag ist die österreichische Herrschaft selbst in Friaul in bester Erinnerung geblieben.14)

      Da aber in der Geschichte, besonders in der neueren Geschichte, die Politik in der Städten gemacht wird, ist die Stimmung in den Städten und ganz besonders in den Großstädten von ausschlaggebender Bedeutung. Die Revolutionen im Mittelalter kamen größtenteils vom Land. Nicht der Handwerker oder der Großbürger, sondern der Bauer revoltierte, obwohl auch da natürlich Ausnahmen zu vermerken


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