Zum poetischen Werk von Salvatore A. Sanna. Группа авторов

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(und vielleicht als Reaktion auf eine poesie-feindliche Welt zu sehen ist), bezieht Montales späte Lyrik ihre überzeugende poetische Kraft. – Beide, Montale (Xenia I und Xenia II, Satura) und Sanna (Mnemosyne) schreiben über den Tod der Partnerin, ein klassisches, vor allem durch Petrarca der italienischen Literatur empfohlenes Thema; beide um-schreiben ihn, gehen ihn langsam, auf Umwegen an, setzen ihn aus mehreren Gedichten zusammen – und dennoch gewinnt der Tod, jenseits romantischer Gefühlsausbrüche, eine bedrohliche Gestalt. Wie verschieden die Lyriker Montale und Sanna voneinander letztlich bleiben, zeigt ein Blick auf zwei aus dem gleichen Anlass hervorgegangene Gedichte. Noch in A mia madre (La bufera, 1940–54) nimmt Montale angesichts des Todes seiner Mutter Zuflucht zu einem beschwörenden, neo-klassischen Tonfall („Ora che il coro delle coturnici/ti blandisce nel sonno eterno…); Sannas Gedicht Abschied (Feste) hingegen reiht Bild an Bild, Eindruck an Eindruck („Sorriso giovanile, odore/acre d’alghe bruciate/sciacquio di mare“, S. 236) und überzeugt durch den Schmerz, der sich hier unverfälscht Bahn bricht.

      IV

      Was heißt Dichtung, wozu Dichten? Über Sinn und Daseinsberechtigung der Poesie und folglich auch über die Aufgabe des Dichters stetig reflektierend, stellt sich die Lyrik Salvatore A. Sannas diesen Fragen mit einer selbst für die Moderne bemerkenswerten Konsequenz. Eine der wesentlichen Aufgaben, die Sanna der Lyrik wie auch der Dichtung im allgemeinen zuteilt, ist – und diese Feststellung mag erstaunen – das Spielen: Mit dem Gedicht und seinen Bestandteilen, mit der Erwartungshaltung des Lesers, vor allem aber mit der Wirklichkeit. So erlaubt sich Sanna neben dem häufig vorkommen den komischen Detail, dem respektlosen Sperling (Il passero umanista…) oder der Landzunge in Form eines Walfisches („Quella balena giallognola“, Torre del pozzo…, beide Mnemosyne), spätestens mit Wacholderblüten regelmäßig Ausflüge, Ausbrüche ins Surreale. Bemerkenswert jene als „anziane signore/imparruccate“ (Estate, Wacholderblüten, S. 70) verkleideten Platanen oder der „piccolo lok/ribelle“ auf der Suche nach amourösen Abenteuern (Viafier, Feste, S. 228); genaueres Hinsehen zeigt freilich, dass hier jedes Mal mit der Sprache (und vielleicht auch um die Sprache) gespielt wird, denn die Platanen, im Italienischen männlichen Geschlechts, verwandeln sich, unübersetzbar, zu betulichen Damen, während Sanna seinem stählernen Casanova den Neologismus „lok“ (für „locomotiva“) verleiht, was die Übersetzung von Gerhard Goebel so elegant mit „Triebwagen“ (S. 229) wiedergibt. Oder sollte man, bei freier, ganz sprach-spielerischer Interpretation, gar den kleinen log(os) erkennen wollen, das Wort, das sich in einer wilden écriture automatique selbsttätig zu Sätzen reiht? Piano bar erzählt beziehungsreich davon, wie sich ein Bar-Pianist aus dem banalen Alltagsgeschäft in die Regionen der E-Musik emporspielt, und ein Gedicht später steigt ein Standbild von seinem Sockel herab und setzt sich ins Café (Edoardo VII, beide Löwen-Maul). Nach dem Vorbild eines Dino Buzzati oder Italo Calvino wollen diese scheinbar leichthin entworfenen, doch sorgsam elaborierten Miniaturen die Unerbittlichkeit des Alltags mit einer poetisch-wunderbaren Atmosphäre überziehen und erhöhen, weshalb sie von verblüffenden Verwandlungen handeln. Solcherart in Frage gestellt, verliert die vermeintliche Wirklichkeit ihre Schrecken, deren größte Banalität und Langeweile sind. Dass das Spiel, das Unernste und Heitere, stets subversive, befreiende Züge besitzt, bleibt nicht die geringste, dem Leser mitgegebene Lehre.

      Dichten heißt Erinnern – und gleichzeitig Vergessen. Anfang und (vorläufiges) Ende dieses Werkes beschäftigen sich, bezeichnend genug, mit der Erinnerung und, in einem weiteren Sinne notwendigerweise, mit dem Phänomen der Zeit, die es durch den Vorgang des Erinnerns im Gedicht aufzuheben gilt. Bereits der antithetisch gefügte Titel Fünfzehn Jahre Augenblicke stellt der schwer wiegenden Zeit ein scheinbar widersinniges und unwirksames, doch tatsächlich ausgleichendes Gegengewicht an die Seite, nämlich Moment-Aufnahmen, festgehaltene Impressionen, Augen-Blicke, die sich ihrerseits im nachhinein, im Kontext der Sammlung, zu einem großen Bildmosaik der Erinnerung zusammensetzen. Aber Sannas Sichtweise bleibt, das zeichnet sich bereits in den ersten Gedichtbüchern ab, nie auf ein simples foto-realistisches Verfahren beschränkt, vielmehr setzt er, ohnehin stets um subjektive Wiedergabe bemüht, vorzugsweise grelle Verfremdungseffekte ein, um dem Leser nur ja etwas deutlich vor Augen zu führen, seien es maskenhafte Gesichter („Rosso, bianco avorio/labbra stirate/in un sorriso“, Fünfzehn Jahre Augenblicke, S. 14) oder ein typisches Detail des deutschen Karnevals („la birra sulle salsicce oleose“, Carnevale ’59, Wacholderblüten, S. 72). Den kaleidoskophaft bewegten Erinnerungen an die Anfangsjahre in Deutschland, an Reisen, Menschen und Liebesbeziehungen folgen in den Sammlungen Feste und vor allem Mnemosyne ungleich gewichtigere, sehr persönliche Gedichte über den Tod der Mutter und später seiner Lebensgefährtin. Das als moderne Nänie angelegte Gedicht Abschied (Feste) bietet, Vergangenheit und Gegenwart, Kindheitseindrücke und philosophische Überlegungen vermischend, den Blick in einen dissonanten Strom durcheinanderwirbelnder Bilder und Emotionen, darin sich nur eine tröstliche Gewissheit verbirgt: „Alla sorte del tempo/anche gli dei sono/soggetti. Chi li vive/ne ricorda la presenza/impetra aiuto/sul baratro che è fondo“ (S. 236/238). Diese sentenzartigen Verse inmitten eines anscheinend spontan niedergeschriebenen Gedichtes nehmen bereits die Anrufung einer haltverheißenden Klassik vorweg, der griechisch-römischen Antike, daraus Sannas fünfter Gedichtband die Mutter der Musen, die Titanin Mnemosyne (d.i. die archaische Personifikation der Erinnerung und des Gedächtnisses) als mächtiges Schutz-Zeichen wählt. Bedrängende, herandrängende Erinnerungen, bewältigte und dichterisch schon festgehaltene, doch auch sich eben erst bildende Erinnerungen begegnen dem Leser in Mnemosyne überall; Sanna verarbeitet, verwandelt sie zum Gedicht, er schreibt: „Mi scopro a mettere/i ricordi ormai pallidi/in grandi valige/dentro scatoloni di cartone“ (S. 346) – und paraphrasiert damit den Prozess des Schreibens, der mit der Verwahrung der Gedichte zwischen zwei Buchdeckeln endet. Wie aus einem allmählichen Klärungsprozess das Gedicht entsteht, thematisiert Sanna ebenfalls am Vergleich der Erinnerungen mit den Maulwürfen, die aus dem großen Unten empordrängen („I ricordi balzano fuori/dal fondo della terra/come le talpe in primavera“, S. 358), doch sogleich wieder, da sie noch keinen gültigen formalen Halt haben, in sich zusammenfallen („e le immagini disgregate/rientrano“, ebd.). Den Feind, gegen den Sanna anschreibt, benennt S’incrociano le visioni…, es ist die zerstörerische, die heraufbeschworenen Bilder trübende Zeit („Il tempo le [le visioni] opacizza“, S. 374). Vermag die Erinnerung, die Zeit zu überwinden? Haben die einmal gefundenen Bilder Bestand? Kann die im Gedicht bewahrte Erinnerung trösten? Sanna hält darauf die Antwort einiger Gedichte bereit. In Le natiche bianche del cavallo… reist der Autor mit seiner Lebensgefährtin in den sardischen Frühherbst einer stilisierten Kindheit zurück, doch obwohl die Vergangenheit lebendig wie ein Film abrollt, löst die letzte Strophe den ganzen Zauber jäh auf, vernichtet die Zeit das für die flüchtige Dauer des Gedichtes zuvor wahrgewordene Wunder: „ma il tempo/aveva distrutto il miraggio“ (S. 380). In andern Fällen gelingt Sannas Unterfangen, das beweisen eine knappe Handvoll Gedichte – Ritorno a casa, Gli occhi di Santa Lucia…, Erano i frutti ancora/verdastri… oder Il San Rocco sul pianerottolo… –, die alle die Harmonie einer im Gedicht wiedergefundenen Zeit durchzieht.

      Schließlich besinnt sich Sanna auf die älteste und zu allen Zeiten höchste Funktion der Lyrik. Dichten heißt Zaubern, magisch Sprechen, durch Sprache Bannen. Bereits am Schluss von Fünfzehn Jahre Augenblicke spricht Sanna an und zu Sardinien: „La tua crosta è ruvida/mare ha corroso le rocce/vento ha appianato le cime/vulcano ha perso le forze“ (S. 62); und später in Le natiche bianche del cavallo… (Mnemosyne) beschwört er noch einmal Kindheitserinnerungen gleichsam in einem Zauberspruch herauf: „Rivedo i fichi bianchi/sugli alberi, le corniole/le vernacce, sento l’odore/del mosto e delle vinacce/il gusto dei minestroni/di cavoli e di verdura“ (S. 378/380).

      Mit seiner Lyrik ein Wunder zu bewirken, versucht Sanna, wenn er, für die Dauer eines Gedichtes, in die mythologische Maske des Sängers Orpheus schlüpft (Fossile della specie umana…, Feste), der, um seine Geliebte Eurydike aus dem Hades heraufzuholen, die unterweltlichen Götter mit seiner Musik verzaubert. Wie sein antikes Vorbild scheitert Sanna; was er aus seinem Gang in die Unterwelt


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