Pandemie. Группа авторов

Pandemie - Группа авторов


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      Restaurants und Geschäfte mussten wochenlang geschlossen bleiben. Die große Mehrheit der Menschen sah die Notwendigkeit ein und fügte sich den Schutzmaßnahmen der Regierung. Huang Senior aber war ein Querkopf. Er zweifelte den Sinn der behördlich verordneten Einschränkungen an, warf den Medien Übertreibung und den Politikern Feigheit vor, weil sie Angst davor hätten, in der Öffentlichkeit als tatenlos hingestellt zu werden. Diese Ansichten vertrat er nicht etwa nur privat, wie einige andere lokale Gewerbetreibende, sondern tat sie auf Facebook, Twitter und in diversen Chatgruppen öffentlich kund. Zu allem Überfluss teilte er auch noch Beiträge mit Abhandlungen irgendwelcher zwielichtiger Experten, die die solidarischen Opfer der Allgemeinheit im Kampf gegen das Virus infrage stellten.

      Mit Verbitterung erinnerte sich Huang daran, was er damals erleiden musste, auf Verschulden seines Vaters. Obwohl das alles schon zwei Jahrzehnte zurücklag, verursachte es immer noch ein Drücken in seiner Magengegend. Er stand ein Jahr vor dem Schulabschluss für die Hochschulreife. Zwar war die Schule geschlossen und jede Art von Zusammenkunft untersagt, aber umso mehr passierte im Reich der Social Media.

      Freunde und Schulkollegen fielen über ihn her. Am schlimmsten waren die, mit denen er sich sonst am besten verstand: die mit Herz und sozialer Einstellung, die sich immer für Minderheiten und Flüchtlinge und Gerechtigkeit einsetzten. Mit einem Mal stellten sie ihn als den Spross einer Sippe von Geschäftemachern da, von Leuten, denen die eigenen Interessen vor das Allgemeinwohl ging, bei denen Profit über der Rettung von Leben stand. Da konnte er noch so sehr versichern, dass er die Ansichten seines Seniors nicht teilte, dass er persönlich alle Maßnahmen der Regierung voll und ganz unterstütze. Ein Mädchen nannte ihn »Chinesenvirus«.

      Das Restaurant des Vaters verstarb am Virus. Zwar kehrte im Laufe des Sommers nach und nach wieder eine gewisse Normalität ein und auch Lokale durften unter gewissen Bedingungen wieder öffnen. Nur Charly Huang hatte sich mit seinem rebellischen Gehabe in der Kleinstadt ein für alle Mal unbeliebt gemacht.

      Fragen tauchten hinter vorgehaltener Hand auf. Was wohl in den diversen Fleischgerichten, die auf der Speisekarte standen, wirklich drinnen war? Man hatte ja erfahren, was Chinesen so alles verzehrten. Gerüchte über verschwundene Katzen und Hunde in der Nachbarschaft machten die Runde. Nach und nach musste Huang Senior Kellner und Köche entlassen. Moritz Huang sah ihn im Geiste, vergrämt und gebrochen, wie er weiterhin jeden Tag das Restaurant aufsperrte, um über leere Stühle und verwaiste Tische zu wachen.

      Er tat ihm nicht leid.

      Denn Huang Junior plagten zu dieser Zeit eigene Sorgen. Die, welche sein Vater ihm eingebrockt hatte.

      Als der Schulunterricht im Herbst wieder anlief, verspotteten sie ihn als Chinesenvirus. Plötzlich war er Außenseiter, von den Mitschülern gemieden. Die Schule wurde ihm zur Qual. Er begann, den Unterricht zu schwänzen, sperrte sich in sein Zimmer ein und las Fantasy-Romane. Seine Eltern bemerkten es nicht einmal, bis die Lehrer Alarm schlugen. Zur Rede gestellt, reagierte er mit Wutanfällen. Monate vor dem Abschluss warf er das Handtuch und brach die Schule ab. Die Kleinstadt hing ihm zum Hals raus. Er packte seine Sachen und zog in die Hauptstadt.

      Huang sah seinen Vater nie wieder.

      Er jobbte hier und da, während die Schutzmaßnahmen gegen Covid-19 nach und nach in kleinen Schritten gelockert wurden. Dann zog der Winter ins Land und die zweite Welle derselben Pandemie überschwemmte die Welt. Neue strenge Beschränkungen wurden verhängt, noch bevor die alten völlig aufgehoben waren. Reisen kamen nicht infrage.

      Huang nahm eine freiberufliche Tätigkeit für ein Versandhandelsunternehmen auf. Seine winzige Wohnung funktionierte er zum Homeoffice um. So hielt er sich über Wasser. Nebenbei begann er, an einem Fantasy-Roman zu schreiben.

      Sein Vater erlitt einen Schlaganfall und verstarb kurz darauf. »Der Stress hat ihn umgebracht«, erinnerte sich Huang an die Worte seiner Mutter am Telefon. Er sparte sich die Mühe, die notwendige Reisegenehmigung einzuholen, um am Begräbnis teilzunehmen.

      Der Lederwarenladen der Mutter überlebte noch recht und schlecht die beiden Pandemien lebensbedrohlicher Viren, die an die zweite Welle von Covid-19 anschlossen: drei Jahre mit einmal strengen und einmal weniger strengen Schutzmaßnahmen, mit Monaten absoluten Lockdowns und solchen mit stark eingeschränkten Öffnungszeiten.

      Als sich danach aber wieder eine neue Erkrankungswelle am Horizont zeigte, gab sich Karina Huang geschlagen. Das hübsche große Haus, in dem die Familie gelebt hatte, wurde versteigert. Sie hatte es bis übers Dach mit Schulden belastet, um ihr Geschäft am Leben zu erhalten.

      Moritz Huang konnte bis heute nicht nachvollziehen, wie das geschehen konnte, angesichts der großzügigen Hilfspakete. Die Regierung griff den Wirtschaftstreibenden in noch nie dagewesenem Maße unter die Arme. Zweifellos mangelte es seiner Mutter an unternehmerischem Geschick.

      Zum Glück kam sie in einem der Altersheime für ehemalige kleine Geschäftsinhaber unter. Eine weitere Initiative der Regierung. Umgesetzt mit großzügiger Unterstützung des weltweit führenden Versandhauses. Huang war diesem dafür sehr dankbar.

      »Hast du dein Frühstück genossen, Chérie?«, ließ sich Mireilles melodische Stimme vernehmen.

      »Perfekt zusammengestellt, wie immer.« Huang nahm den letzten Schluck vom Birnen-Rote-Bete-Saft und machte sich daran, das Geschirr in den Spüler zu räumen.

      Die Doku über die letzten kleinen Läden war vorbei und am Wandschirm kündigte die Zopfträgerin mit den rosigen Wangen eine Mitteilung der Regierungskoalition an. Es handelte sich um einen Hinweis auf die laufende Volksabstimmung.

      Die Bürger hatten in allen wichtigen Angelegenheiten das Sagen. Wegen der Ansteckungsgefahr ließen die Schutzmaßnahmen im Abwehrkampf gegen die Viren weder Versammlungen noch Demonstrationen zu. Als Ausgleich gab es mehr direkte Demokratie. Die Stimmabgabe erfolgte online von zu Hause.

      Die aktuell zur Entscheidung anstehende Frage wurde flächenfüllend eingeblendet:

      »Sollen Patienten, die an Rabion-40 erkrankt sind und Anzeichen von selbstzerstörerischem oder gesellschaftsschädigendem Verhalten zeigen, in gesonderte Sicherheitssanatorien isoliert werden? Ja oder nein.«

      Huang hatte seine Wahl schon gestern getroffen.

       3

      Die Strenge des Lockdowns konnte sich von einem Augenblick auf den anderen verändern. Das Update erfolgte in Realtime auf Basis der in der Umgebung gemessenen Virenbedrohung und nach Maßgabe der Richtlinien der Weltgesundheitsbehörde. Die App auf Huangs Kommunikator zeigte Stufe Orange. Das bedeutete moderate Ausgangssperre. Rot zog die sofortige Streichung aller vergebenen Ausgangsslots nach sich.

      Aber auch auf Stufe Orange galt es eine Reihe von Formalitäten zu erfüllen. Vor allem musste man sich minutiös an das genehmigte Zeitfenster halten. Der Sinn lag darin, die Anzahl der Benutzer des öffentlichen Raumes unter Kontrolle zu halten. Dies wiederum war unvermeidlich, um die Einhaltung der Regeln des Social Distancing zu gewährleisten.

      Der Kommunikator zeigte neun Uhr zweiundfünfzig an. Huang blieben also noch ein paar Minuten.

      »Vergiss nicht, den Barcode zu checken, Chérie«, erinnerte ihn Mireille.

      Völlig unnötigerweise. Registrierte sie denn nicht, dass Huang gerade dabei war, genau das zu tun? – Zu überprüfen, ob die elektronische Ausgangsgenehmigung ordnungsgemäß auf seinem Kommunikator hochgeladen war?

      Im Prinzip ging alles automatisch.

      In jedem Quartal stellte Huang einen Antrag auf täglichen Ausgang. Auf der Grundlage seiner Gesundheitsdaten und der Bevölkerungsdichte in seiner Wohngegend erteilte ihm die Gesundheitspolizei eine für drei Monate gültige Freigabe. Er durfte seine Wohnung demnach pro Tag jeweils für eine Stunde verlassen. Mit gewissen Auflagen: Erstens Vollkörperdesinfektion innerhalb von 120 Minuten vor Betreten des öffentlichen Raums; zweitens Tragen einer Schutzmaske; drittens Infektionstest nach der Rückkehr.

      Täglich bekam Huang seinen Slot für den Folgetag elektronisch mitgeteilt. Die Vergabe erfolgte im Losverfahren. Nachts herrschte Ausgangssperre.


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