Pandemie. Группа авторов

Pandemie - Группа авторов


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öffnete sich die Tür auf seiner Seite und er konnte einsteigen. Sonst hätte er so lange warten müssen, bis ein freies Abteil vor seiner Warteposition hielt. Manche Leute wechselten nach einiger Zeit auf andere Wartepositionen. Aber das brachte sie auch nicht unbedingt schneller weiter. Marvin spekulierte immer darauf, zu welcher Tageszeit in Abhängigkeit von den Zugängen zum Bahnsteig und der Anzahl der bereits wartenden Fahrgäste am ehesten Abteile frei werden würden. Meist kam das auch ziemlich gut hin. Einfach eine Gleichung mit mehreren Variablen.

      Während der Fahrt über vier Stationen dachte Marvin an den Abend. Er hatte ein Date mit Lia. Wurde auch Zeit, nachdem er sie, also genauer sein Avatar ihren Avatar schon viermal virtuell ausgeführt hatte. Aber sie waren sich näher gekommen und heute Abend wurde es endlich ernst. Marvin hatte in froher Erwartung gestern Abend schon seinen Stim-Anzug gereinigt und bereitgelegt. Zusammen mit der 5-D-Brille würde das ein hoffentlich befriedigender Abend, im wahrsten Sinne des Wortes. Früher hatten sich die Leute für solche zwischenmenschlichen Aktivitäten tatsächlich persönlich getroffen. So richtig Haut auf Haut. So stark konnte doch gar kein Desinfektionsmittel wirken. Und es erschien ihm auch irgendwie unerotisch, wenn man sich dauernd nachdesinfizieren musste. Selbst ein aktuelles Hygienezeugnis nützt einem da wenig. Die Untersuchung ist dann schon ein paar Stunden alt und gibt eben nur den Gesundheitsstatus von vor ein paar Stunden an. Was man sich in der Zwischenzeit alles hätte einfangen können! Marvin wurde richtig schlecht bei dem Gedanken, dass sich früher wirklich Körperflüssigkeiten bei so etwas gemischt hatten. Wie ekelhaft! Er bekam richtig Bauchschmerzen von dem Gedanken. Na, Lia würde sich zum Glück nicht auf solch einen Wahnsinn einlassen.

      Jetzt musste er aber aussteigen. Auf der Rolltreppe achtete er auf den vorgeschriebenen Abstand zum Vordermann, Vorderfrau oder was auch immer. Blöderweise legte er dabei seine Hand auf das Geländer. Dass er einen dummen Anfängerfehler begangen hatte, wurde ihm sofort klar, als das Brennen in seiner Handfläche einsetzte. Schließlich trug er keine Handschuhe. Auch wenn die meist wenig nützten. Er lief schnell zu einem öffentlichen Desi-Spender und hielt seine Handfläche unter den grünlichen Sprühstrahl. Das Brennen ließ nicht nach. In Kombination mit dem Desinfektionsmittel wurde es eher noch schlimmer. So ein Mist. Da würde er wohl einen Umweg über die nächste San-Station machen müssen und zu spät zur Arbeit kommen. Aber Hygiene geht vor, sagte sein Chef immer. Da würde er halt mal Verständnis zeigen müssen.

      In der San-Station suchte er sich eine leere Kabine. Auf der anderen Seite der Scheibe saß eine Frau mittleren Alters. Er schilderte ihr sein Problem. Sie nickte verständnisvoll und forderte ihn auf, den betroffenen Arm bis zum Ellenbogen in eine Öffnung in der Seitenwand der Kabine zu stecken. Irgendetwas fixierte seinen Arm dahinter. Dann stach eine Nadel zu. Den Arm konnte er nach wie vor nicht bewegen. Erst nach einer halben Minute ließ die Fixierung seinen Arm los und er konnte ihn wieder herausziehen. Der Arm sah soweit unbeschädigt aus. Die Einstichstelle an der Vene war kauterisiert worden. Die Frau hinter der Scheibe bat ihn, in zwanzig Minuten für das Ergebnis der Untersuchung wiederzukommen. Marvin blieb in der Nähe der Kabine stehen und wartete. Jetzt zur Arbeit zu gehen und wieder zurückzukommen, machte keinen Sinn. Je länger er sich draußen bewegte, umso größer das Risiko.

      Er schickte über den Compi eine Nachricht an seinen Chef. Die aktuellen Nachrichten aus der Firma hatte er sich schon während der Bahnfahrt vorlesen lassen. Nichts Weltbewegendes. Sein neues Projekt ging nur langsam voran. Aber von zu Hause oder unterwegs aus konnte er nicht arbeiten. Dafür waren selbst Glasfaserkabel nicht leistungsfähig genug. Er war bei einem relativ jungen Start-up als DNA-Designer angestellt. Also eine Art Chimäre aus IT-Nerd, Molekulargenetiker und Kreativmensch. Das Unternehmen wollte ganz neue DNA-Konstrukte auf den Markt werfen, die nicht nur funktionell, sondern auch ästhetisch ansprechend sein sollten. Für welchen Einsatzbereich die denn eigentlich sein sollten, hatten sie noch nicht entschieden.

      Die zwanzig Minuten waren um, Marvin ging in die Behandlungskabine zurück. Sein Bauch tat ihm schon wieder weh. Vielleicht war das Essen, das er sich gestern Abend hatte kommen lassen, nicht gut gewesen. Aber das Restaurant hatte alle aktuellen Zertifikate, was das Testequipment für die Überprüfung der Rohstoffe und Routineprotokolle für die Zubereitung anging. Auch das Personal soll vertrauenswürdig sein. Ab und zu versuchte die Konkurrenz schon mal, Mitarbeiter zu bestechen und Sabotageakte anzustiften, um Kunden zu vergraulen. Marvin hatte dort schon öfter bestellt und nie einen Grund zur Beanstandung gehabt. Inzwischen hatte die Med-Technikerin wieder auf der anderen Seite der Scheibe Platz genommen. Sie beruhigte ihn mit der Bemerkung, dass er sich das Übliche eingefangen hatte: Invasive Nanobots. Sie zeigte ihm eine rasterelektronenmikroskopische Aufnahme seiner Handfläche. Die Haut sah aus wie die Mondoberfläche nach einem intensiven Meteoritenbombardement. Ein tiefes Loch neben dem anderen. Er wäre nicht der Erste, der dieser Tage mit so etwas zu ihnen käme, bekam er erklärt. Anscheinend ging jemand herum und schmierte die Dinger im öffentlichen Raum auf Oberflächen. Mit Desinfektionsmitteln kam man ihnen leider nicht bei. Die zerstörte nur ein starker Stromschlag oder Abflammen. Ein kurzer Kontakt reichte aus, und sie bohrten sich durch die Hautoberfläche in die Tiefe bis zum nächsten Blutgefäß. Bingo! Und von da an stand ihnen der ganze Körper offen. Auch die Handschuhe aus extradickem Vinyl mit Metallfaserverstärkung waren kein wirkliches Hindernis für die kleinen Mistkerle. Wenn er sie heute denn getragen hätte. Was für Schäden die mikroskopischen Maschinen jetzt bei ihm anrichten würden, war nicht ganz klar. Daher blieb nur die harte Tour: Nachdem Marvin bestätigt hatte, dass er im Augenblick keine anderen Bots als Therapie oder Enhancement in sich trug und auch keine technischen Implantate besaß, bekam er eine großzügige Dosis Killer-Bots injiziert. Diese sollten alle nicht-biologischen Entitäten in seinem Körper aufspüren und zerstören. Er wurde vor gelegentlichen leichten Fieberschüben in der nächsten Zeit gewarnt. Ansonsten gäbe es keine Probleme. Marvin mochte sich lieber nicht vorstellen, welcher Kampf da jetzt in seinem Inneren tobte, Maschine gegen Maschine.

      Er verließ die Kabine und beeilte sich, zur Arbeit zu kommen. Ein Werbeplakat für antibakterielle Oligo-Nukleotide entlockte ihm ein Lächeln: »Multi-Resistenz war gestern – Mega-Resistenz ist heute. Mit Destroyer von Pharmeg!« Na, die waren ziemlich von gestern. Auch mit Mega-Resistenz kam man heutzutage nicht mehr weit.

      Marvin betrat das Firmengebäude. Im fünften Stock hatte seine Abteilung eine eigene Sekretärin, mit Empfangstresen, ganz Oldstyle. Marvin grüßte sie, musste sich dann aber am Tresen festhalten und krümmte sich vor Schmerz zusammen. Nola, die Sekretärin, blickte entsetzt über den Tisch auf sein kalkweißes Gesicht und wich bis zur Wand zurück. Mit aufgerissenen Augen forderte sie über ihrem Compi eine Notfalleinheit der Medis an. Marvin setzte sich auf einen der Besucherstühle. Jetzt konnte er einfach nicht mehr weiter, das musste er sich eingestehen. Blieb nur das Warten auf das Notfallteam. Vielleicht waren die Killer-Bots zu schwach gewesen und die Nanos, die er sich eingefangen hatte, schnitten gerade ein Loch in seinen Magen und die Magensäure lief jetzt in seinen Bauchraum und verätzte dort alle Organe. Oder es war ein ganz neues Virus, das dafür sorgte, dass sich seine Organe zu einem wässrigen Brei auflösten. Ein einfaches hämorrhagisches Fieber wäre dann schon richtig gnädig gewesen. Dann würde er nur innerlich verbluten. Nach wenigen Minuten stürmte das Medi-Team in Vollkörperschutz in den Raum. Zwei Leute fingen sofort an, die Oberflächen mit Desinfektionsmitteln zu besprühen. Nola wurde auch gleich mit eingenebelt. Zwei andere Mitarbeiter zogen einen transparenten Plastiksack über Marvin und legten ihn auf eine Rolltrage. Sofort fuhren sie mit ihm heraus, während die anderen beiden ihre Arbeit vollendeten. Unten auf der Straße verluden sie ihn in ein Quarantänefahrzeug. Die Fahrt zum nächsten Krankenhaus war kurz, jeder Stadtteil hatte jetzt mindestens eines. Das Fahrzeug bog auf eine Rampe in das Tiefgeschoss ab und kam in einer Box zum Stehen, die später hermetisch geschlossen und komplett mit Desinfektionsgas geflutet wurde.

      Marvin wurde von der autonomen Trage automatisch durch diverse Gänge gefahren, bis er schließlich in einem kahlen Raum zum Stehen kam. Mehrere Personen in Schutzkleidung näherten sich und nahmen durch die Plastikhülle hindurch Proben von ihm. Alle Löcher wurden sofort wieder sorgfältig abgedichtet. Ohne die Luftversorgung aus der Flasche unter der Trage wäre er schon längst erstickt. Nach einiger Zeit kam ein älterer Mann zu ihm. »Schaut nicht gut aus. So etwas ist selten. Und schon ziemlich fortgeschritten. Mit Nanobots können wir da nichts mehr machen.«

      Marvin


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