Pandemie. Группа авторов

Pandemie - Группа авторов


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mit großen Augen an. »Ihr wohnt im Freien? Ohne ein Dach über dem Kopf?«

      »Sag mal, Mädchen, wo kommst du denn her? Man könnte glatt denken, du wärst zu Besuch vom Mond. Sag nicht, du hättest noch nie etwas von Obdachlosen gehört.«

      Lenina zappelte mit den Schuhen in ihren Händen hin und her, bevor sie kleinlaut zugab: »Doch, schon, aber immer nur so rein theoretisch. In echt hab ich die noch nicht gesehen.«

      »Na dann wird es höchste Zeit«, antwortete Eve und ging weiter. Wie die anderen es wohl aufnehmen würden? Es kam selten vor, dass einer von ihnen jemanden mit in die Gruppe brachte. Sie waren eine kleine eingeschworene Gemeinschaft, in der jeder jedem vertrauen konnte und man sich auf einander verließ.

      Wolf, ein dreibeiniger Schäferhund, kam ihnen schwanzwedelnd entgegengelaufen. Eve bückte sich und ließ sich von ihm begrüßen.

      Lenina blieb wie angewachsen stehen. Es fehlte nicht viel und sie hätte die Lider geschlossen, um nicht sehen zu müssen, was hier geschah. Der Hund fuhr Eve mehrfach mit der Zunge übers Gesicht. Das war so ekelhaft. Auf keinen Fall würde sie zulassen, dass der Köter das bei ihr machte. Eve blickte sich zu ihr um und sagte: »Das ist Wolf. Willst du ihn nicht begrüßen?«

      »Nein, danke. Der ist mir zu groß.«

      »Nun komm schon. Wolfie tut dir nichts, der hat ein Herz aus Gold. Wenn du ihn nicht begrüßt, denkt er womöglich, du kannst ihn nicht leiden.«

      Mit kleinen Schritten kam Lenina den beiden näher und konnte sich tatsächlich überwinden, dem Hund mit der Hand über den Kopf zu fahren. Bevor er ihre Hand abschlabbern konnte, steckte sie sie hinter den Rücken. Unter der Brücke standen zerlumpte Personen, die ihnen entgegensahen. Sie machten keinen besonders freundlichen Eindruck. Böse Blicke schienen sich in Leninas Körper zu bohren. Sie konnte sich nicht erinnern, sich jemals zuvor in ihrem Leben so wenig willkommen gefühlt zu haben. Am liebsten hätte sie auf der Stelle kehrtgemacht, aber sie wusste, dass dies nicht ging. Nicht zum ersten Mal an diesem Tag schwor sie sich, nie wieder einen Schritt vor die Tür zu setzen, ohne Credits. Nie, nie wieder wollte sie in solch eine entwürdigende Situation geraten.

      Je näher sie der Gruppe kamen, desto besser konnte sie die Gestalten erkennen. Eine alte Frau, die aussah wie eine Hexe aus den steinalten Märchenbüchern. Sie trug einen langen Rock, eine fast ebenso lange Schürze darüber. Eine Bluse, die vom Muster her überhaupt nicht zum Rock passte, ein Schultertuch in Dunkelblau zierte die Bluse. Sie hatte einen Buckel und eine lange, krumme Nase. Es fehlten lediglich die Warzen im Gesicht und der schwarze Kater auf dem Buckel. Neben ihr stand ein Mann, der aussah wie ein Klappergestell. Auf seinem Shirt stand, wahrscheinlich handgeschrieben, »Anti«. Die viel zu weite Hose wurde von Packband an Ort und Stelle gehalten. Auf dem schütteren Haar saß eine Schieberkappe im Schottenmuster und wirkte fehl am Platz. Neben ihm stand ein kleinerer Mann, der irgendetwas hatte, das Lenina unweigerlich an Ratten denken ließ. Ob es der spitze Kopf war, oder die kleinen Augen, konnte sie nicht sagen, aber der Kerl wirkte unheimlich. Hinter der Gruppe saß noch jemand auf dem Boden, den sie nicht richtig sehen konnte. Die Alte ergriff als erste das Wort: »Wen hast du uns denn da mitgebracht?«

      Nun standen die beiden Mädchen der Gruppe direkt gegenüber und Eve antwortete: »Das ist Lenina. Sie war mit ihren Eltern im Zoo und die haben sie dort vergessen.«

      »Wie kann man denn sein Kind vergessen?«, wollte der Dürre wissen.

      »Das ist viel einfacher, als du denkst. Ein Moment Unachtsamkeit reicht vollkommen, nicht wahr, Lenina?«, fragte Eve.

      Lenina nickte und betrachtete die Leute genauer. Allesamt trugen sie verschlissene und dreckige Kleidung. Eve schien mit ihrer einfachen, aber sauberen Montur nicht zu den anderen zu passen. Eve schritt die Reihe ab und stellte ihre »Familie« vor.

      »Hier hätten wir Tis. Tis ist unser Dealer, der besorgt dir alles, was gerade ausverkauft ist.«

      »Hallo, Tis«, begrüßte Lenina den Mann und fragte: »Was ist das für ein komischer Name?«

      »Och, den haben mir die anderen verpasst, stammt noch aus Zeiten, als es den Klopapier-Hype gab.« Als er Leninas Blick sah, erklärte er weiter: »Toilet Tissue heißt Klopapier auf Englisch, die Kurzform ist Tis.«

      »Ach so …«

      »Dieser dürre Kerl ist Anti«, fuhr Eve mit ihrer Vorstellungsrunde fort.

      »Hallo, Anti.« Sie hätte gerne nachgefragt, gegen was der Mann denn nun war, aber das würde sie vielleicht im weiteren Verlauf des Abends erfahren. Sie wollte nicht zu neugierig erscheinen.

      »Hier hätten wir noch Mom, und da hinten sitzt BM, was die Abkürzung für Blind Man ist. Das war’s, das ist meine Familie.« Eve ließ Lenina zurück, ging zu dem Blinden, tauschte ein paar leise Worte mit ihm, kramte in einem Bündel und verschwand hinter einem Pfeiler. Als sie zurückkehrte sah sie genauso zerlumpt aus wie der Rest der Truppe.

      Die anderen kehrten mit Lenina im Schlepptau zurück unter die Brücke und wiesen ihr einen Platz neben BM zu. Lenina nahm ein Stück Pappe, legte es neben den Mann und setzte sich darauf. Sie musste aufpassen, dass sie sich hier nicht die Krätze, Läuse oder Wanzen einfing. »Guten Tag«, sagte sie schüchtern. So viele fremde Leute auf einen Haufen und dann noch so ein verwahrlostes Pack. Der Mann sah sie mit seinen milchigen Augen an und erwiderte den Gruß. »Guten Tag, junge Dame. Lenina heißt du?«

      »Ja.«

      »Erinnert mich an ein Buch, dass ich als junger Mann gelesen habe.«

      »Echt?«

      »Willst du nicht wissen, was das für ein Buch war?«

      »Was war das für ein Buch?«

      »Schöne neue Welt, hieß es.«

      »Aha.«

      »Eine Utopie.«

      »So?«

      »Ja. Gut war das.«

      »Schön.«

      Eve gab ihre heutige Ausbeute an Mom weiter und die verteilte sie. Jeder bekam ein paar Kirschen, einen angeknabberten Müsliriegel steckte sie Tis zu, der aussah, als könnte er eine Extraportion Zucker gut vertragen. Den halben Hamburger warf sie Wolf hin, der ihn gleich gierig verschlang. Aus einer Tüte kramte sie ein Butterbrot hervor, das sie dem Blinden in die Hand drückte und für Eve und Lenina gab es eine Tüte mit salzigem Popcorn. Lenina hatte Süßes erwartet und beim ersten Bissen das Gesicht so verzogen, als hätte sie in eine Zitrone gebissen. Mit dem zweiten Bissen gewöhnte sie sich an den Geschmack und fand es fast leckerer als das klebrig-süße.

      »Hast du dir mal wieder nichts zugeteilt, Mom?«, fragte Eve.

      »Ne, ne, mein Frollein, mach dir mal keine Sorgen. Es gibt gleich für alle noch was Leckres, nicht wahr, Anti?«

      »Soll ich anfangen?«

      »Ja, mach mal.« Die alte Frau ließ sich neben Eve auf den Boden plumpsen und stöhnte. »Puh, meine alten Knochen. Anti hat heute gleich zwei Hasen erwischt, die brät er uns jetzt. Das reicht dann auch für deinen Besuch.«

      Die beiden Männer trugen Holz zusammen und entfachten ein Feuer. Ein Gestell, das sie wohl häufiger nutzten, wurde darüber aufgestellt, ein Spieß mit den beiden Hasen daran kam in die Astgabeln und wurde fleißig gedreht. Innerhalb kürzester Zeit verbreitete sich ein Duft, der hungrig machte. Leninas letzte Mahlzeit, neben dem Popcorn, lag Stunden zurück und ihr Magen knurrte. Das bisschen Popcorn hatte ihren Hunger eher angefacht, statt ihn zu stillen.

      »Na, da ist aber jemand hungrig. Ich dachte, in euren Kreisen, bekommt man regelmäßig warme Mahlzeiten«, sagte der Blinde.

      »Wenn man nicht verloren geht, stimmt das auch«, antwortete Lenina. Um das Thema zu wechseln, wandte sie sich an Eve: »Warum hast du dich umgezogen, das Kleid stand dir besser … und es war sauber.«

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      »Das


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