Berufliche Belastungen bewältigen. Группа авторов

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Norm der Station gefolgt, ohne deren Sinn und Nutzen im konkreten Fall zu prüfen. Sie hat gelernt, dass diese Handlungsweise seitens der Station von ihr erwartet wird. Anweisungen ist Folge zu leisten – wenn dieser Grundsatz befolgt wird, gerät aus dem Blick, wie Helfende auch fachlich-ethisch verantwortlich handeln können. Sie befindet sich in einem Dilemma zwischen Patientensicherheit und dem Willen der Patientin. Hätte eine kontinuierliche Beobachtung der Patientin, die durch die standardmäßige, regelmäßige Vitalzeichenkontrolle postoperativ ohnehin gewährleistet worden wäre, den Sturz verhindern können? Eine sorgfältigere Erhebung der Patientenanamnese und ein Gespräch mit der Klientin im Voraus über mögliche Handlungsabläufe nach der Operation hätte die Ängste von Frau Papazyan erkennen lassen können. Kontinuierliche Teamsitzungen mit Evaluation einzelner Abläufe und Bewertungen von Einzelsituationen aus der Vergangenheit tragen dazu bei, Normen als Verhaltens- und Handlungsregeln in Beziehung zu setzen.

      Neben den bisher genannten Belastungen gibt es noch zahlreiche weitere Einflussfaktoren auf die Entstehung von Gewaltsituationen, die strukturell mit den Berufen verbunden sind. Darunter fallen nicht zuletzt die Konfrontation mit körperlicher Nähe, der Umgang mit Krankheit, Ängsten, Leid und Tod sowie der erlebte Widerspruch von institutionellen Abläufen und individuellen Bedürfnissen der AdressatInnen. Ebenso ist das Balancehalten zwischen dem Mut zur Nähe und der Kraft zur Distanz oder die Mandatsproblematik zwischen Hilfe und Kontrolle zu nennen. Hohe Kommunikations- und Beziehungsanforderungen, die sich etwa bei Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen oder fremder sprachlicher Herkunft überfordernd gestalten können, fordern die Fachkraft in weiterem Maße. Zudem sinkt bei vielen HelferInnen die Motivation im Laufe der Berufsjahre, wenn sie sich durch die Gesellschaft kaum wertgeschätzt fühlen und die Bezahlung in Relation zur geleisteten Arbeit auch noch als relativ gering erlebt wird. Weitere Faktoren sind schlecht ausgestattete Räumlichkeiten, fehlende Bereitstellung von Geräten oder dringende Umbaumaßnahmen. Darüber hinaus wird die Arbeit durch unnötige Laufarbeiten oder beengte Verhältnisse in Büros zusätzlich erschwert. Möchten Helfende Verbesserungsvorschläge einbringen und entdecken jedoch dabei, wie gering ihre berufliche Autonomie ist, oder werden ihnen ihre geringen Einflussmöglichkeiten auf grundsätzliche Entscheidungen deutlich, werden dysfunktionale Strukturen erkennbar, die gewaltbegünstigend wirken können.

      2.4 Beispiele gelungener und weniger gelungener Arbeit in Lernsituationen

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      Lernsituation 1: Fallbeispiel strukturelle Gewalt

      Pflegestudentin Mia Geißner betritt den Wohnbereich 2 eines Altenpflegeheims. Mittlerweile ist es bereits ihr drittes Dienstwochenende dort und sie freut sich jetzt auf die Frühstückspause mit den Kolleginnen. Der praktische Einsatz gefällt ihr. Nach der morgendlichen Übergabe durch den Nachtdienst bleibt ihr und den anderen Pflegenden noch Zeit, in Ruhe einen Kaffee zu trinken. Nach einigen Minuten klingelt das Telefon: Eine Kollegin des gerontopsychiatrischen Bereiches bittet um Unterstützung bei der Morgenpflege der BewohnerInnen, da es ansonsten für die vorhandene Besetzung heute unmöglich sei, bis zum Frühstück die alten Menschen zu versorgen. Frau Geißner ist sofort klar, dass sie aufgrund ihres Studentenstatus diejenige sein wird, die heute dort aushelfen muss.

      Als sie die gerontopsychiatrische Station betritt, wird sie bereits von der Wohnbereichsleitung Lea Ahmann erwartet. Sie wird mit den Worten begrüßt, dass es heute die »reinste Waschstraße« sei. Der Versuch der WBL, weiteres Personal zu organisieren, sei aufgrund der Tatsache gescheitert, dass das Haus ansonsten personaltechnisch an diesem Dienstwochenende schlecht besetzt sei, so Frau Ahmann. Die beiden Pflegenden beginnen gemeinsam ihre Arbeit. Im ersten Zimmer angekommen, beginnt Mia Geißner während der Körperpflege ein Gespräch mit der Bewohnerin Frau Albrecht. Die genervten Blicke von Frau Ahmann ignoriert sie einfach. Nachdem die erste Bewohnerin versorgt ist, ziehen die beiden Pflegerinnen weiter. Vor dem nächsten Zimmer wird Mia darauf aufmerksam gemacht, dass die Zeit für ausgiebige Gespräche nicht ausreiche und sie einfach nur das Nötigste machen solle: »Was quatschst du so lange, wir müssen doch arbeiten!« Verdutzt nickt Mia die Anweisung ab. Ohne viele Worte beginnt sie im nächsten Zimmer rasch mit der Körperpflege eines älteren, bettlägerigen Mannes. Herr Meier macht jedoch mit einigen deutlichen Handbewegungen klar, dass er nicht gewaschen werden möchte. Genervt wirft Mia den Waschlappen zurück in die Waschschüssel mit den Worten, dass er an diesem Tag dann halt gar nicht mehr gewaschen werde. Sie schaut Herrn Meier zornig an und sagt: »Wenn der Popo eben dreckig bleiben soll, dann ist das Ihr Problem!« Herr Meier schließt daraufhin seine Augen.

      Übung zum Perspektivwechsel und zur Reflexion

      1. Wenn Sie sich in die Lage der Beteiligten versetzen, was können Sie gut verstehen und was weniger gut?

      2. Welche Bedeutung hat der Personalengpass für diese Situation?

      3. An welcher Stelle hätte diese Frustrationskette unterbrochen werden können?

      4. Was sollten die beiden Pflegefachkräfte nach dieser Erfahrung besprechen?

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      Lernsituation 2: Fallbeispiel Umgang mit Aggressionen im Gespräch

      Für die Pflegestudentin Nicole Kern ist es mittlerweile der zwölfte Frühdienst in Folge. Glücklicherweise ist heute Freitag und dem Start ins Wochenende steht nichts mehr im Weg. Es muss lediglich noch eine angekündigte Neuaufnahme ausgearbeitet und das Mittagessen verteilt werden. Um circa 11:45 Uhr wird Herr Becker in Begleitung der Aufnahmeschwester im Bett auf die Station gefahren. Er hat einen dicken Gipsverband um sein rechtes Bein. Während Praktikantin Mona Hartz den Patienten auf sein Zimmer bringt, hört Frau Kern der Übergabe zu. Die Aufnahmeschwester erzählt, dass Herr Becker auf dem Weg zum Supermarkt gestürzt sei und sich eine Fraktur des Wadenbeines zugezogen habe.

      Nicole Kern verschiebt das Ausarbeiten der Unterlagen auf später und beginnt mit dem Verteilen des Mittagessens. Als sie bei Herrn Becker angekommen ist, bringt sie ihm ein Zugangsessen. Er hebt die Abdeckung des Tellers hoch und zeigt mit seiner Mimik deutlich, was er davon hält. Es ist Freitag und da gibt es in katholischen Krankenhäusern immer Fisch – Herr Becker hasst Fisch! Das erkennt Frau Kern sofort an seiner Mimik. Herr Becker fordert die Pflegerin barsch auf, etwas anderes zu bringen: »Du blöde Kuh bist zu dumm, ein gescheites Essen zu besorgen!« Die Pflegerin sichert ihm das Essen zu und ruft direkt in der Küche an. Gestresst gibt die Küchenaushilfe jedoch zu verstehen, dass es heute nichts anderes mehr gebe, da die vegetarischen Gerichte bereits vergriffen seien. Damit kehrt Frau Kern zu Herrn Becker zurück. Dieser gibt ihr trotzig die Anweisung, das Tablett wieder mitzunehmen, und bittet darum, dass jemand ihn aufgrund seiner eingeschränkten Mobilität in die Cafeteria begleiten möge, damit er sich dort etwas holen könne. Frau Kern muss jedoch noch vor der Übergabe seine Unterlagen ausarbeiten und die Praktikantin ist damit beschäftigt, einer weiteren Dame das Essen anzureichen. Frau Kern bleibt also nichts anderes übrig, als Herrn Becker seine Bitte zu verwehren und ihm schlechten Gewissens Zwieback anzubieten: »Es tut mir leid, aber da kann ich auch nichts mehr für Sie tun!« Sie wendet ihren Blick von ihrem Patienten und verlässt das Zimmer ohne ein weiteres Wort.

      Übung zum Perspektivwechsel und zur Reflexion

      1. Wenn Sie sich in die Lage der Pflegefachkraft Frau Kern und des Patienten Herrn Becker versetzen, was können Sie gut verstehen und was weniger gut?

      2. Wie kann sich Frau Kern verhalten?

      3. Welche Folgen sehen Sie für Frau Kern, wenn sich solche Situationen wiederholen?

      4. Welche Formen kultureller Gewalt sind Ihnen bekannt und welche Lösungen sind denkbar?

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      2.5 Perspektivische Lösungsansätze

      Beide


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