Berufliche Belastungen bewältigen. Группа авторов

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      • Was bedeutet es z. B. für einen Heilpädagogen, wenn die gewalttätige Handlung gegenüber dem betreuten Menschen geheim bliebe?

      • Welchen Einfluss hat der Führungsstil einer Wohnbereichsleitung auf das Verhalten der Pflegefachkraft?

      Die englische Psychologin Glynis Breakwell beschreibt ebenso verschiedene psychologische Erklärungstheorien. Darüber hinaus bietet sie eine zeitliche Differenzierung von fünf Eskalationsphasen als Angriffsphasen sowie Reaktionsweisen der Opfer und schließlich Chancen der Vermeidung für Pflegefachkräfte, HeilpädagogInnen und SozialarbeiterInnen im Umgang mit personaler Gewalt. Sie konfrontiert LeserInnen mit deren o. g. individuellen »Aggressionsvorlieben« als Tätern (Breakwell 1998, S. 60 f.). Fachkräfte können sich entsprechend fragen:

      • Welche Auslösefaktoren kenne ich bei mir?

      • Welchen Aggressionsstil bevorzuge ich im Konflikt?

      • Welche Resultate erzeugt mein aggressives Verhalten?

      • Was empfinde ich im Konflikt?

      • Welche Vorbilder hatte ich im Umgang mit Konflikten?

      • Gegen wen richtet sich meine Aggression?

      • Welche Rolle spielt die Kultur der Einrichtung, in der ich arbeite?

      Das bereits über 20 Jahre alte Standardwerk von Breakwell findet in aktuellen Diskursen immer noch besondere Resonanz (vgl. Glasl 2017, Oelke 2012). Darin betont sie insbesondere den Unterschied zwischen einer legitimen Selbstbehauptung, sich durchzusetzen – denn diese sichere Individualität und Identität für die Fachkräfte, so die Autorin – und einer illegitimen Gewalt als vorsätzlichem Versuch, Schaden zuzufügen (vgl. Breakwell 1998, S. 19 f.).

      Die von ihr dargelegten fünf Verhaltensweisen im Konflikt fordern nicht nur die Fachkräfte auf, ihren Anteil am Konflikt zu reflektieren.

      1. Auslösephase

      Fachkräfte fragen sich: Wann und wo erreiche ich meinen inneren Siedepunkt? Aufgrund der Vielzahl von Auslösern wird es schwer, sich sämtlicher persönlicher Trigger bewusst zu werden. Betroffene in dieser Phase beginnen anonym, sich nicht mehr regelkonform zu verhalten, sie fallen aber noch nicht auf, da es sich hauptsächlich noch um einen innerpsychischen Prozess handelt.

      2. Eskalationsphase

      Physische und psychische Unruhe steigen und die Konzentrationsfähigkeit sinkt. Es kommt zu verbaler und nonverbaler Distanzlosigkeit, Beleidigungen und Drohungen nehmen zu. Eine Verrohung von Sprache zeigt sich, Sprachsensibilität nimmt ab. Fachkräfte sind aufgefordert, drohendes oder einschüchterndes Verhalten zu erkennen, um eine weitere Eskalation zu vermeiden.

      3. Krisenphase

      Aggressoren sind »rasend vor Wut«, wenn sie die Selbstkontrolle über ihre aggressiven Impulse verlieren. Der Angriff erscheint absolut berechtigt und unausweichlich. Es fällt dann sicherlich schwer, mittels verbaler Kommunikation den Konflikt zu lösen, selbstsicher die eigenen Bedürfnisse zu beachten, achtsam zu bleiben: Wie geht es dem Anderen? Einen Abstand zur gefährlichen Situation zu schaffen, ist sicherlich eine wichtige Aufgabe in solchen Momenten. Vielleicht können rationale Notwendigkeiten vorgeschoben werden, um die Situation verlassen zu können, bevor körperlicher Zwang oder Gewalt ausgeübt wird.

      4. Erholungsphase

      Betroffene Personen beruhigen sich häufig innerhalb von spätestens anderthalb Stunden, wenn sie die Möglichkeit sehen, ihr normales Grundverhalten wiederherzustellen. Doch noch anfällig, in eine weitere Krise zu rutschen, besteht die Gefahr des Rückfalls, insbesondere da die ersten beiden Phasen dazu nicht mehr durchlaufen werden müssen. Fachkräfte können sich darin üben, sich zu stabilisieren, wenn sie Strategien kennen, sich zu beruhigen.

      5. Depressionsphase

      Körperliche Erschöpfung, Trauer oder Selbstvorwürfe kennzeichnen diese Phase: Fachkräfte bitten um eine Klärung und beginnen vielleicht mit einer Geste der Versöhnung den neuen Kontakt zu ihren AdressatInnen. Oft ist auch die vermittelnde Außensicht durch eine dritte Person hilfreich.

      Breakwell resümiert:

      »Schließlich stellt sich in unserer Untersuchung heraus, daß auch die heftigsten gewaltsamen Übergriffe verstanden und mit Hilfe der richtigen Intervention zur passenden Zeit verhindert oder zumindest abgeschwächt werden können.« (Breakwell 1998, S. 60)

      Aspekte struktureller bzw. kultureller Gewalt:

      In den ständigen Interaktionen und wechselseitigen Beeinflussungen der Beteiligten werden auch auf einen zweiten Blick die Wechselwirkungen zur Umwelt, also die Bedingungen der Einrichtungen (strukturelle bzw. kulturelle Gewalt) erkennbar. Diese wirken als indirekte Form auf die helfende Beziehung (Sozialverhältnisse). Institutionalisierte Beziehungsregeln können etwa ein permanentes Maß an Gewalt beinhalten. In diesem Sinne bestimmen die Interaktionen individueller,

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      sozialer und gesellschaftlicher Kräfte die Ausgangspunkte des Gewaltpotenzials (vgl. Gerrig 2018, S. 690 ff.).

      Sämtliche Gewaltformen bedingen und beeinflussen sich folglich gegenseitig, auch wenn sie nicht immer sichtbar sind (vgl. Rövekamp/Sommer 2016, S. 96 ff.).

      Beispiele:

      Herr Brucht ist seit drei Jahren arbeitssuchend. In seinem letzten Gespräch mit der Sozialarbeiterin im Jobcenter erfährt er, dass ihm nach SGB II Grundsicherung für Arbeitsuchende sein ALG-1 gekürzt wird, weil er sich zuvor weigerte, an einer ihm angebotenen Maßnahme teilzunehmen. Er versucht vergebens, die Gründe seiner Verweigerung an der Teilnahme dieser vorgeschlagenen Maßnahme zu erklären.

      Auf Anordnung des Arztes mit richterlichem Beschluss fixieren die Pflegekräfte des Altenheims die Bewohnerin Frau Kramer jetzt mittels des Bettgitters zu ihrer eigenen Sicherheit, dabei möchte sie sich doch einfach nur bewegen. Sie versteht nicht, warum sie so behandelt wird.

      Indirekte Gewalt geht nicht zwangsläufig mit einer personalen Erfahrung unmittelbarer Gewaltanwendung einher. Dennoch kann sie auf Umwegen gewalttätiges Verhalten von Menschen fördern. So mag etwa die Unterbringung in Mehrbettzimmern durch die fehlende Privatsphäre bei BewohnerInnen der Einrichtungen große Frustrationen und damit auch Aggressionen gegenüber Betreuenden zur Folge haben.

      Der Begriff strukturelle Gewalt steht speziell für solche Gewaltphänomene, welche z. B. durch das (latente) Vorhandensein behindernder Regeln einer Organisation entstehen. Fachkräfte wie auch KlientInnen können solche Bedingungen spüren, die in einer indirekten Form durch Werte, Normen, Regeln und Zwänge der Einrichtung wirken, wenn deren (Nicht-)Einhaltung sanktioniert wird. Eine solche »Einrichtungskultur« prägt in hohem Maße die stattfindenden Interaktionen (vgl. Greving 2011, S. 133 ff.). Interaktionsprozesse, so der Heilpädagoge Greving, werden durch Strukturen und Prozesse der Einrichtung prädisponiert, die wiederum durch gesellschaftliche Prozesse beeinflusst werden. Ebenso können wirtschaftliche Zwänge angeführt werden. Die Wahrnehmung, einer Fremdbestimmung zu unterliegen und eigene Bedürfnisse, Arbeitsvorstellungen oder Zeitgestaltungen nur noch unzureichend befriedigen zu können, sind Beispiele solcher Gewalterfahrungen, nicht nur auf der Seite der Helfer. Diese versuchen dann vielleicht, nach fachlichen Standards zu handeln, jedoch fühlen sie sich vorgegebenen Rahmenbedingungen unterlegen und ausgeliefert. So entsteht ein sich mehrfach wiederholender Konflikt, der sich auf psychischer oder sozialer Ebene, etwa im Umgang zwischen KollegInnen, zeigen kann. Das Erleben der alltäglichen, nicht lösbar scheinenden Gewaltsituation mündet vielleicht in einer Ohnmachtserfahrung. In solchen Momenten müssen die Ursachen der Gewalt bewusst gemacht werden. Lösungen solcher Konflikte greifen zu kurz, wenn sich die Fachkräfte lediglich den organisatorischen Bedingungen anpassen (»Da kann man ja doch


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