Berufliche Belastungen bewältigen. Группа авторов

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sich mit dieser besonderen Thematik (image Kap. 10).

      Ein weiterer Aspekt dieser Gewaltform ist ihr latentes Vorhandensein. So bemängeln z. B. die Fachkräfte in Betreuungseinrichtungen die knappen personalen Ressourcen: Doppelschichten, die schlechte Vereinbarkeit von Familie und Arbeit, eine geringe Mitbestimmung sind Gründe, die Betreuende in einen Konflikt führen (vgl. Rövekamp-Wattendorf u. a. 2018b). Systemzeiten, also Zeitvorgaben, nach welchen dortige Arbeitsabläufe eingeteilt werden, bestimmen das Leben und Arbeiten. Geht der versuchte Lösungsweg der Sozialberuflichen jedoch zu Lasten der BewohnerInnen, erleben diese das Verhalten als Gewalt. Klar wird: Die Systemzeit in einer Einrichtung steuert offen oder verdeckt die Handlungen der AkteurInnen (Visiten- und Sprechzeiten, Essenszeiten, Zeiten für Körperpflege usw.), sie fordert die Menschen auch auf, ihre persönlichen Zeittakte damit in Übereinstimmung zu bringen. Dies gelingt nicht immer ohne das Empfinden, Opfer von Gewalt zu werden.

      Raumkonzepte, die eine aktive und persönliche Gestaltung von Arbeits- und Lebensplätzen verhindern, haben ebenso negative Folgen für die dort Handelnden, wenn etwa eine abwechslungsarme, reizlose Lebenswelt negative Auswirkungen auf ihr Wohlbefinden ausübt.

      Kulturelle Gewalt kann als eine Sonderform struktureller Gewalt verstanden werden. Sie wirkt ebenso indirekt auf die Beteiligten durch ihre Prägung, etwa auf Menschen in Wohnstätten. Sie prädisponiert ihr soziales Handeln, indem sie eine Handlungsorientierung vorgibt. So entstehen etwa Denk-, Sprach- und Handlungsmuster von MitarbeiterInnen gegenüber Menschen mit einer Behinderung, die diese u. U. gar nicht teilen wollen, z. B.: Jede Region pflegt ihre typischen Bräuche, die jedoch nicht von allen Menschen geteilt werden müssen. Die Berücksichtigung kultureller Eigenarten von BewohnerInnen statt »Menschenblindheit« (Sedmak 2013, S. 112) gilt in solchen Einrichtungen als eine transkulturelle Kompetenz.

      Auch Bräuche, religiöse Überzeugungen oder kulturelle Symbole haben für Menschen in Einrichtungen der Altenhilfe große Bedeutung, sind aber genauso individuell zu hinterfragen. Gerade ältere Menschen sollten derartige kulturelle Symbole mit ihrer eigenen kulturellen Identität (etwa aufgrund vorhandener Lebenserfahrungen) nicht in Einklang bringen müssen.

      Zwei Beispiele:

      Während Herr Hein das Mitsingen alter Volkslieder und die Gedichte in der Morgenrunde eines Altenheims liebt, weil sie ihn an seine schöne Kindheit erinnern, ist Frau Mühlen immer ganz unruhig und steht ständig auf, um die Runde zu verlassen, während die Pflegenden es als ihre pflegerische Aufgabe ansehen, sie bei diesem Angebot zu halten. Die Erfüllung ihrer kulturellen Bedürfnisse wird durch fehlende fachliche Biografiearbeit verhindert.

      Bei der Inobhutnahme eines Kindes aus einer ausländischen Familie erlebt Frau Mittag vom Jugendamt, dass ihr Handeln im Sinne einer sogenannten Staatsgewalt mit den Werten und Vorstellungen der betroffenen Eltern nicht übereinstimmt. Sie ist mit Sprachproblemen und einem ihr fremden kulturell bedingten Lebensstil konfrontiert. Sie beginnt zu überlegen, ob die Menschenrechte tatsächlich universal sind.

      Wie bei der strukturellen Gewalt prädisponiert auch kulturelle Gewalt die professionelle Beziehung. HelferInnen sind aufgefordert, sensibel dafür zu werden, dass Menschen, die sich nicht (un-)geschriebenen Normen anpassen wollen oder können, nicht stigmatisiert werden. Sprachkonflikte begegnen ihnen, wenn Menschen aus fremden Kulturkreisen ausgegrenzt werden. Darüber hinaus ist anzuerkennen, dass soziale Diskriminierung durch unterschiedliche »Behandlung von Menschen, die sich nach Religion, Muttersprache, sexueller Orientierung, Alter, Bildung, Erfahrungshorizont« (Sedmak 2013, S. 140) etc. von der Fachkraft unterscheiden, eine Form kultureller Gewalt ist.

      Da strukturelle Gewalt auch durch organisationale Strukturen und ökonomische Regeln verstärkt werden kann, fördert dies dann die personelle Gewalt, wenn, durch sie ausgelöst, der Druck auf MitarbeiterInnen und ihre AdressatInnen etwa durch »Statusangst« oder »Statuswettkampf« (Sedmak 2013, S. 135) weitergeleitet wird.

      Was zur Verschärfung dieses Phänomens beiträgt: Fällt es z. B. BerufsanfängerInnen zu Beginn ihrer Arbeit noch schwer, sich des Vorhandenseins dieser Gewaltphänomene bewusst zu werden (ahnungsloser Zugang), so könnte das an stereotypen Bildern und Allmachtsfantasien über das sozialberufliche Handeln in Krankenhäusern, Einrichtungen für Menschen mit Behinderungen, Altenhilfeeinrichtungen oder Kinder- und Jugendeinrichtungen liegen. Wenn berufliche Erfahrungen nicht zu vorhandenen vereinfachten Vorstellungen passen, werden sie zunächst überlagert. Vorurteilsbildungen können zu kurzfristigen naiven Selbsttäuschungen führen. Es kann nicht sein, was nicht sein darf (vgl. Sedmak 2013, S. 136). Dennoch wäre hier Sensibilisierung nötig, um Gefahren und Lösungen frühzeitig zu entdecken. Der Austausch zwischen den MitarbeiterInnen kann dort ertragreich werden, wo ergebnisoffen und kontrovers diskutiert werden darf. Die persönlichen Belastungen durch situationsinadäquate Führungsstile, durch Arbeitsverdichtungen, unzureichende Arbeitsplatzgestaltung, durch Grenzbelastungen usw. gehören ebenso in diesen Reflexionsprozess.

      Beispiele:

      • Viele Menschen geraten erst in späteren Lebensjahren mit schweren Krankheiten und dem Tod in Kontakt, jedoch wird z. B. eine Pflegefachkraftschülerin bereits zu Beginn ihrer Ausbildung mit schweren Diagnosen, Abschied, Tod und Trauer konfrontiert. Die praktischen Einsätze in einem Altenpflegeheim konfrontieren sie mit dem Dilemma, einerseits Sterbende würdevoll begleiten zu wollen (klientenzentrierte Sichtweise), aber andererseits dem Stationsablauf zu unterliegen (einrichtungszentrierte Sichtweise). Sie muss Gefühlsausbrüche Betroffener erleben, ihnen begegnen und deren Verhalten richtig deuten können. Doch zugleich ist eine unbedingt nötige Aufarbeitung ihrer eigenen Erlebnisse – etwa mit einer Praxisanleitung –, wenn diese aus Personalknappheit nicht sichergestellt ist, erschwert. Es kann zu unprofessionellen Einordnungen kommen. So erwächst die Gefahr, Frustrationsgefühle in neue Pflegebeziehungen (wenn vorhergehenden Erlebnissen nicht fachlich-reflexiv begegnet wird) zu übertragen.

      • SozialarbeiterInnen sind nicht nur während ihres beruflichen Starts der Gefahr ausgesetzt, etwa durch die Diskrepanzerfahrung zwischen dem eigenen Anspruch an ihr fachliches Handeln einerseits und den institutionellen Vorgaben – etwa hinsichtlich erreichbarer Fallzahlen – andererseits, sich in einen Pragmatismus zu flüchten. Es kommt zu Aussagen wie »Man kann eben nicht jedem helfen!« Einer Sozialarbeiterin wird vielleicht die Diskrepanz zwischen Ethik und Fachlichkeit einerseits und organisatorischen Rahmenbedingungen andererseits bewusst, aber aufgrund struktureller Bedingungen bleibt diese auf der persönlichen Ebene unlösbar (»Da kann man eben nichts machen.«). Der Konflikt und damit die Belastung bleiben bestehen.

      • Neben den physischen Belastungen sind Pflegefachkräfte in Krankenhäusern auch hohen fachlichen Anforderungen ausgesetzt. Unaufhörlich wiederkehrender Zeitdruck kommt hinzu. Jeder »noch so kleine Fehler« in der Kommunikation oder der Medikamentenapplikation kann enorme Folgen nach sich ziehen. Durch die daraus resultierende dauerhaft hohe Verantwortung wird es z. B. einer Pflegefachkraft erschwert, eine ausreichende Distanz zum beruflichen Alltag zu entwickeln, und möglich wird, dass sie diese Belastung auch noch in das Privatleben mit hineinnimmt.

      Durch ihre Tätigkeiten in den verschiedenen Einrichtungen erleben HelferInnen verschiedene dort herrschende Rahmenbedingungen als Gewalterfahrung. Dazu zählt Sedmak auch die durch den häufig knapp bemessenen Personalschlüssel hohen Fallzahlen und damit einhergehende hohe Kontaktfrequenzen zu einzelnen Menschen. Denn dann erleben sich Fachkräfte in ihren sozialen Settings gefangen (vgl. Sedmak 2013, S. 137). Auch die Abwechslung zwischen klientenfernen und -nahen Tätigkeiten, die eine Entlastung darstellen könnte, werde nicht als solche empfunden, wenn sie oktroyiert oder zu einseitig erlebt werde, so der Autor. Daraus resultierender anhaltender Stress führe zu Anpassungsreaktionen, deren Verlauf insbesondere durch das kaum mehr wahrgenommene körperliche wie seelische »Einpendeln« auf einem zu hohen Niveau begünstigt wird, mit dem Ergebnis, dass die Belastung als solche nicht mehr wahrgenommen werde (vgl. Sedmak 2013).

      Eine Fachkraft wird täglich mit Sorgen, Vorwürfen, Ängsten, Leiden und Trauer konfrontiert, auch mit herausforderndem Verhalten. Es wird von ihr erwartet, in jeder Situation empathisch auf individuelle Reaktionen


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