Politik – Kirche – politische Kirche (1919–2019). Группа авторов

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University Press

      Leitung des Verhaltens durch das Unsagbare

      Das Daodejing im Vergleich mit Plotin

      Tilo Eilebrecht

      Abstract

      Laut dem Daoismus ist das Dao, das erste Prinzip, nicht im eigentlichen Sinne sagbar. Kann diese Form der negativen Philosophie vom Neuplatonismus aus verstanden werden? Ein beispielhafter Vergleich von Laozi und Plotin ergibt, dass es sich trotz einiger Gemeinsamkeiten um grundlegend unterschiedliche Formen der negativen Philosophie handelt. Laozi entwirft eine Form des Verhaltens, welche die sich von selbst ergebenden Impulse ungehindert zum Zuge kommen lässt. Der Abwesenheit von Vorgaben entspricht die Unbestimmtheit des Dao als des Prinzips aller Entwicklung. Während das Eine bei Plotin ein in sich Bestimmtes, jedoch durch das diskursive Denken nicht Bestimmbares darstellt, ist das Dao durch und durch ein Negatives. Der Primat liegt für Laozi in der Praxis, für Plotin in der Theorie.

      Das Daodejing, als dessen Verfasser Laozi gilt, beginnt mit den Worten:

      Der Weg (dao 道), der gesagt werden kann, ist nicht der beständige Weg.

      Der Name, der genannt werden kann, ist nicht der beständige Name.1

      Jeder Versuch, das erste Prinzip, das Dao, in Worten auszudrücken, kann sich diesem nach dem Daodejing zwar annähern, bleibt aber notwendig hinter dessen Reinform zurück. Diese wenigen Worte machen klar, dass es sich hier um eine negative Philosophie handelt. Wer das Daodejing zum ersten Mal liest und philosophisch entsprechend vorgebildet ist, wird leicht an die aus der europäischen Philosophiegeschichte bekannten Formen negativer Philosophie und negativer Theologie denken, welche insbesondere in der Nachfolge des Neuplatonismus entstanden sind. Ist diese Assoziation zum Verständnis tatsächlich hilfreich oder verstellt sie eher den unvoreingenommenen Blick auf den Daoismus? Im Folgenden möchte ich die Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen beiden Richtungen näher beleuchten und für den Neuplatonismus exemplarisch Plotin heranziehen. Dabei werde ich die These vertreten, dass das Daodejing gegenüber der neuplatonischen negativen Philosophie einen eigenständigen Ansatz vertritt, welcher zwar einige Gemeinsamkeiten, aber auch wesentliche Unterschiede zum Neuplatonismus aufweist. Insbesondere ist das erste Prinzip in sich als ein Negatives und Unbestimmtes gedacht, nicht nur als ein mit diskursiven Mitteln nicht Erschließbares.

      1. Das Daodejing

      Zu Beginn möchte ich die einleitend zitierten Sätze in den Kontext des gesamten Kapitels 1 des Daodejing stellen:

      Der Weg, der gesagt werden kann, ist nicht der beständige Weg.

      Der Name, der genannt werden kann, ist nicht der beständige Name.

      Das Namenlose ist der Anfang von Himmel und Erde.

      Das Namen-Habende ist die Mutter der tausenderlei Wesen.

      Darum sei beständig ohne Begehren, um sein Subtilstes zu schauen.

      Sei beständig mit Begehren, um seine Grenzen zu schauen.

      Diese beiden sind desselben Ursprungs, aber haben verschiedene Namen.

      Gemeinsam heißen sie das Dunkle,

      des Dunklen noch Dunkleres.

      Das ist das Tor zu allem Subtilen.1

      Das Kapitel beginnt mit der Unterscheidung zwischen dem Benannten und dem nicht Benennbaren. Das Benannte, das in sprachliche Form Gebrachte wird dabei keineswegs abgetan. Vielmehr spielt der Text mit der Ambivalenz des Daos als des Unbenennbaren und des real je doch Benannten. Das Dao ist keineswegs das Transzendente, Abgekapselte, sondern es entfaltet sich selbst in der Wirklichkeit in Benennungen. Für die Erzeugung der Wirklichkeit kann das Dao nicht in der Unbestimmtheit bleiben, sondern es erzeugt sie, indem es sich bestimmt und Form annimmt. Beide Seiten des Dao als das Unbenennbare und als das immer schon Benannte ergeben gemeinsam das volle Bild. Es ist durchaus möglich, sich dem Dao sprachlich anzunähern, man wird es dabei jedoch in eine nicht-beständige Form bringen.

      Gleichwohl ist die Unbestimmbarkeit dem Dao nichts Äußerliches. In Kapitel 14 wird es als „Gestalt ohne Gestalt“ bezeichnet:

      Vage und subtil – es kann nicht benannt werden.

      Es kehrt zurück ins Ding-lose.

      Das nennt man die Gestalt ohne Gestalt,

      die Form ohne Ding.

      Man nennt es das Verschwommene und Vage.

      Es sind nicht etwa unsere mangelnde Erkenntniskraft oder die Grenzen unserer Sprache, welche die sprachliche Bestimmung des Dao verhindern. Es ist in sich selbst ein nicht Festgelegtes, es widersetzt sich der Eingrenzung in eine eindeutige Gestalt.

      Weshalb ist das so? Was motiviert den Autor, das erste Prinzip als ein Unbestimmbares anzusehen? An dieser Stelle möchte ich vom ersten Kapitel des ersten Teils in das erste Kapitel des zweiten Teils des Daodejing springen. Die beiden Teile sind überschrieben mit den Stichwörtern „Dao“ 道 und „De“ 德. De kann mit „Lebenskraft“ oder „Tugend“ übersetzt werden. De ist die reale Umsetzung des Dao im einzelnen Lebewesen. Da alle Dinge dem Dao entspringen, gestaltet sich ihr natürliches Sein ebenfalls gemäß dem Dao. Dies wird als De bezeichnet. Der Mensch hat nun das Vermögen, sein eigenes Verhalten zu bestimmen. Damit stellt sich ihm die Frage nach dem De noch in anderer Weise – nämlich als Frage nach dem idealen Verhalten. Das De ist das gelingende Verhalten – nicht nur in moralischer Hinsicht, sondern unter umfassender Einbeziehung praktischer Aspekte. Wie kann sich dieses nach der Auffassung des Daodejing gestalten?

      Die Einleitungssätze des zweiten Teils geben auf diese Frage eine überraschende Antwort:

      Das hohe De versucht sich nicht als De zu gebärden, deshalb besitzt es De.

      Das niedrige De will das De nicht verlieren, deshalb besitzt es kein De. (c. 38)

      Den ersten Halbsatz müssen wir im chinesischen Original betrachten, denn er spielt mit den Grenzen der Grammatik. Im Chinesischen können viele Wörter sowohl als Substantiv als auch als Verb auftreten. Dies gilt jedoch nicht für das Wort „De“, welches nicht als Verb benutzt werden kann. Genau das tut der Text jedoch beim zweiten Vorkommen von „De“ in diesem Vers:

      上德不德

      Shàng dé bù dé

      Das Negativpartikel 不 kann nur vor Verben stehen, daher muss das zweite „De“ verbal interpretiert werden. Unter Missachtung der sprachlichen Usancen formt der Text das Substantiv zu einem Verb um. Man könnte im Deutschen seinerseits sprachlich gewalttätig übersetzen: „Hohe Tugend tugent nicht“. Die Erwägung der Frage, was damit gemeint sein kann, ist Aufgabe der Interpretation. Mein Vorschlag lautet: Das dem Dao gemäße Verhalten ist ein solches, welches sich nicht an einem Idealbild des De orientiert. Wer eine bestimmte Form des Verhaltens anstrebt, versteift sich auf einen Aspekt des Lebens und blendet andere aus. Das Dao als das Bewegungsprinzip aller Wesen wird so in der Selbstentfaltung behindert2. Das Daodejing vertritt die These, dass die Propagierung von Verhaltensnormen wie Güte, Rechtschaffenheit oder Liebe zu den Eltern3 nicht nützt, sondern vielmehr schadet. Der Mensch wird sich eher gütig verhalten, wenn ihm die Güte nicht als Idealbild und Pflicht vorgehalten wird4. Dahinter steht die Vision eines zwanglosen Idealverhaltens, das sich mühelos von selbst ergibt. In der Terminologie der modernen Psychologie kann dies als eine spezielle Art von Flow verstanden werden5.

      Das Dao muss also gestaltlos sein, um die Praxis dazu zu bewegen, ihre Ausrichtung auf eine Zielgestalt aufzugeben. Aus der Unbestimmtheit des De, des praktischen idealen Verhaltens, ergibt sich die Unbestimmtheit des Dao als des metaphysischen6 Prinzips. Eine bestimmte Verhaltensweise – eine bestimmte Gestalt des Verhaltens – kann in einer Situation


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