Mein Gotland. Anne von Canal
den ich betreten kann.
Da staple ich ruhig meine wenigen Sachen in den Schrank, streiche die Bettdecke glatt und lege prüfend die Hand an die Heizung. Sie ist warm. Minuten, Stunden, Tage schaue ich über das Meer, das keine zwei Momente dasselbe ist, und habe keine Angst.
2 Es ist ein kontrastloser Tag. Versupptes Dunkelweiß.
Die Straßen sind mit einer unsichtbaren Eisschicht glasiert. Autos tasten sich über Kreuzungen und Kreisverkehre, und zwischen einem ausführlichen Bericht über das Verstricken von gotländischer Lammwolle (Schafe heißen hier Lämmer, und Lämmer heißen Lammkinder, und wer das nicht weiß, ist ein Bockskopf) ruft das Radio die fröhliche Empfehlung zu mir herein: Fahren Sie vorsichtig, dann kommen Sie sicher an!
Einmal durch den Kreisel gekommen, halte ich das Lenkrad fest auf Kurs. Der Toftavägen erspart mir ansonsten Kurven, geht stur geradeaus. Nicht weit, knapp drei Kilometer in südlicher Richtung aus Visby heraus, ist da schon die Visborgsslätt, ein großes Feld, und mitten drauf der Oscarssten, ein mächtiger grauer Stein von vier Kanonen bewacht. Dieses patriotische Monument der gotländischen Heimatwehr mutet in seiner Großspurigkeit seltsam amerikanisch an, hier mitten im Nirgendwo.
Ich biege im Schneckentempo links ab, die Reifen verlieren dennoch die Haftung. Das Feld kommt näher, und näher. Rumpelnd rutsche ich mit dem Heck vom Asphalt, bleibe stehen. Schaue.
Gleich hinter dem Feld beginnt der Wald.
An dessen Rand, am Ende der Allee, stand früher das Haus.
Dieses Haus.
Mit herrschaftlicher Auffahrt, einer Fahne auf dem Dach und Spitzengardinen in den Fenstern glänzte es so vortrefflich, als der Lagerverwalter des gotländischen Panzerregiments in den Zwanzigerjahren hier Hof hielt: Kinder in Matrosenanzug und Frauen mit Sonnenschirmen auf dem gepflegten Rasen, die feinen Herren auf der Veranda und das Truppenübungsgelände von P18 gleich nebenan.
Ab und zu vibriert der Waldboden. Es ist ein tiefes Grollen, das die Tassen leise zittern lässt, sodass sich im Kaffee feine Wellen kräuseln, und die Bäume schütteln kaum merklich ihre Zweige, gerade so viel, dass das Laub raschelt, als führe ein kleiner Wind hindurch, als erwachte die Erde. Dann dumpfer Kanonendonner. Ach, sie üben wieder Schießen, seufzt jemand, dann fährt man fort, die Sonne zu genießen und die gepflegte Konversation.
Viele Jahre war es ein gutes Haus, mit Ansehen und Bedeutung, doch beides starb mit dem letzten Verwalter, und bald dienten die Räume nunmehr zur Lagerung von Sachen, die niemand mehr brauchte. Das Haus selbst hätte man dort drinnen gelagert, wenn es nur ginge.
Langsam wurde es morsch.
Die Dachrinnen müde, die Fensterläden schief. Ein weißer Flieder wuchs ihm über den Kopf, streckte die Arme und Dolden zu den Fenstern herein wie ein Dieb, der heimlich Geschenke brachte – doch niemand freute sich daran.
1968 sollte es weg.
Für den Herbst waren die Bagger bestellt. Doch statt der Bagger kamen Anstreicher und Zimmerleute. Es kamen Lkws mit Filmequipment und Filmmenschen. Wie ein Bienenschwarm summten sie heran und herum und verwandelten das müde Gebäude in eine kunterbunte, anarchische Insel der Glückseligkeit. Es kamen ein Äffchen und ein Pferd, und im Garten wuchs ein Limonadenbaum. Und es kamen Kinder. Viele Kinder.
Die Allee ist noch da, unverkennbar. Die kahlen Winterbäume stehen in Reih und Glied, am Ende der Fahrspur ein schweres Tor, ein hoher Zaun, gut gesichert.
Ich suche einen Hinweis auf das Grundstück, auf dem die Villa stand. Reste eines Fundaments vielleicht? Oder möglicherweise ist der große Flieder noch da? Ein Stück Gartenzaun?
Irgendetwas muss doch zu finden sein von meinem einstigen Gedankenspielplatz, der Geburtsstätte meiner Vorstellung von Unbeschwertheit und Abenteuer.
Unschlüssig gehe ich hin und her, weiß nicht, wo ich suchen soll. Ein paar Schritte in ein irgendwie symmetrisch aussehendes Gebüsch, ich breche durchs Unterholz, finde jedoch nichts.
Eine Frau, die ihren Hund ausführt, geht vorbei, sieht skeptisch herüber, ich nicke und grüße freundlich. Als sie sich ein wenig später noch einmal umdreht, als hielte sie mich für eine Mörderin, die hier ihre Leichen vergräbt, winke ich ihr zu.
Wer will für ein paar Kronen und einen Haufen Süßigkeiten als Lohn lärmend durch die Straßen rennen? Sich bei einem Gartenfest mit Kuchen den Bauch vollschlagen und mit Torten werfen? Auf Bäume klettern und Geschenke abpflücken und auf tönernen Vogelpfeifen traurige Lieder spielen? In der Wiese liegen und heimlich wilde Erdbeeren auf einen Grashalm fädeln?
Als Regisseur Olle Hellbom und das Filmteam nach Visby kamen und kleine Statisten suchten, mussten die Kinder nicht lange überlegen, was sie in ihren Ferien anfangen wollten. Dabei sein war alles, sagt bis heute jeder, der dabei war.
Was hätte ich darum gegeben, ein Mal auf diesem Pferd zu reiten, in dem rauchenden Backofen Pfefferkuchen zu backen, über Tische und Bänke zu toben, an der Lampe zu schaukeln.
Eines dieser Kinder sein!
Nicht Pippi. Nein, niemals Pippi. Wer war schon so frech, stark und mutig? Vorlaut, das bekam ich noch hin, aber derart furchtlos? Nein, das war ich nie.
Natürlich beneidete ich die Piratentochter um ihre scheinbar endlosen Ressourcen von Süßigkeiten und Gold und ihre Souveränität, doch um deren Kehrseite beneidete ich sie nicht. In all der lauten Schrägheit nahm ich auch schon als Kind deutlich eine flächige, blasse Leerstelle wahr – eine unleugbare tiefe Verlassenheit, die große Ähnlichkeit hatte mit dem namenlosen Gefühl, das mich manchmal nachts unversehens überfiel und knebelte –, und das machte mir Angst. Im Licht der auf- und untergehenden Sonne war und blieb Pippi, das wusste ich, eine Insel. Frei, aber allein.
In mir wohnte vielmehr eine Bedenken tragende Annika, mit Socken in den Sandalen und farblich zur Hose passenden T-Shirts, die das verrückte Dasein, das Pippi kreierte, gerne teilte, aber abends lieber wieder ins sichere Zuhause ging und sich die Ohren wusch.
Die meisten anderen wollten Pippi sein. Behaupteten sie.
Traumtänzer, Hochstapler, Angeber! Niemand kann Pippi sein!
Niemand außer der kleinen Inger Nilsson, die als Neunjährige ganz freimütig und unbedarft einer Kunstfigur ihr Gesicht lieh und es niemals mehr zurückbekam. Ihr Lächeln, ihre Grübchen gehören einer anderen, seit über fünfzig Jahren schon. Ein Leben hinter einem entfremdeten Gesicht, wie muss das sein?
Ich bin es! Inger! Ich bin Inger, Inger, Inger Nilsson!, ruft sie allmorgendlich in den vom Duschen beschlagenen Spiegel, doch sobald sich der Nebel lichtet und das Spiegelbild langsam auftaucht, verhöhnt es sie, und die Welt straft sie Lügen, kaum dass sie das Haus verlässt, und erwidert erbarmungslos: Ich kenne keine Inger. Du bist Pippi. Wer sonst sollte denn Pippi sein? Du trägst doch ihr Gesicht!
Und Inger senkt den Kopf und wünscht sich ein neues Antlitz, eine neue Chance.
Doch von dieser späteren Verzweiflung wusste sie damals nichts, als sie das Casting gewann. Obwohl sie eher ängstlich und schüchtern war, ließ sie sich wieder und wieder von der aggressiven Meerkatze bepinkeln und kratzen; sie lernte reiten, zungenbrechende Worte und komplizierte Sätze und schwamm eine Weile zu Recht ganz oben auf der schäumenden Woge der Begeisterung und des Erfolgs, des noch unbekannten, lockenden Ruhms, der öffentlichen Liebe, die ihr – also Pippi – entgegengebracht wurde.
Ein Sommermärchen.
Kaum war die letzte Klappe gefallen, verließ das Filmteam die Insel ebenso plötzlich, wie es sie eingenommen hatte; das Rampenlicht, das ganz Visby – seine brave Stadtmauer, seine Gassen, seine Häuser, seine Menschen – kurios in Szene gesetzt hatte, erlosch, und alles war wieder nur Stein und Alltag.
Und das Haus an der Visborgsslätt? P18?
Grell geschminkt und äußerlich herausgeputzt, stand es am Waldrand und wusste nicht, wohin mit sich.
Die Frau mit dem Hund winkt mir nicht zurück, sie geht