Maigret, Lognon und die Gangster. Georges Simenon

Maigret, Lognon und die Gangster - Georges  Simenon


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       Der 39. Fall

      Georges Simenon

      Maigret, Lognon und die Gangster

      Roman

      Aus dem Französischen von Elisabeth Edl und Wolfgang Matz

      Kampa

      1 Notgedrungen übernimmt Maigret Madame Lognon, ihre Gebrechen und ihre Gangster

      »Natürlich … Natürlich … Ja, Monsieur … Ja, sicher … Sicher … Ich verspreche Ihnen, ich tu, was ich kann … So ist’s … Meine Empfehlung … Was? Ich habe gesagt: Meine Empfehlung … Nein, ich bin nicht gekränkt … Auf Wiederhören, Monsieur …«

      Wohl zum zehnten Mal, er zählte längst nicht mehr, legte Maigret auf, entzündete von Neuem seine Pfeife, schaute vorwurfsvoll in den ausdauernden, kalten Regen draußen vor der Fensterscheibe, griff nach dem Federhalter und beugte sich über den Bericht, an dem er seit einer Stunde saß, fertig jedoch war nicht mal eine halbe Seite.

      Kaum schrieb er nämlich das erste Wort, dachte er in Wirklichkeit schon an etwas ganz anderes, dachte er an den Regen, an diesen besonderen Regen, Vorbote der echten Winterkälte, der einem gleich in den Kragen rinnt, durch das Schuhwerk sickert, beständig vom Hutrand tropft, ein Regen für Schnupfen, schmutzig und trist, bei dem die Menschen lieber zu Hause bleiben, und dort sieht man sie dann wie Gespenster hinter den Fenstern.

      Ist es Langeweile, was sie ans Telefon treibt? Unter den acht oder zehn fast sofort aufeinanderfolgenden Anrufen waren keine drei irgendwie sinnvoll. Und wieder schepperte die Klingel, und Maigret musterte den Apparat, als hätte er Lust, ihn mit einem Faustschlag zu zertrümmern, schließlich bellte er:

      »Hallo?«

      »Madame Lognon besteht drauf, mit Ihnen persönlich zu sprechen.«

      »Madame wer?«

      »Lognon.«

      Es war beinahe ein Witz, bei diesem Wetter, in einem Augenblick, da er schon strapaziert genug war, aber tatsächlich hörte er plötzlich am anderen Ende der Leitung den Namen jenes Mannes, den man rundum Inspektor Griesgram nannte, die traurigste Gestalt unter allen Pariser Polizisten, mit einem so sprichwörtlichen Pech, dass manche behaupteten, er habe eine ganz spezielle Anziehungskraft für das Unglück.

      Aber nicht Lognon war in der Leitung, sondern Madame Lognon. Maigret hatte sie erst ein Mal gesehen, in ihrer Wohnung an der Place Constantin-Pecqueur, in Montmartre, und seit diesem Tag nahm er dem Inspektor nichts mehr übel, ging ihm möglichst aus dem Weg und bedauerte ihn von ganzem Herzen.

      »Stellen Sie durch … Hallo! Madame Lognon?«

      »Entschuldigen Sie, dass ich störe, Herr Kommissar …«

      Sie betonte sorgfältig jede Silbe, so wie Menschen, die einem unbedingt ihre gute Erziehung beweisen wollen. Maigret hielt fest, es war Donnerstag, der 19. November. Die schwarze Marmoruhr auf dem Kamin zeigte elf Uhr früh.

      »Ich hätte nicht darauf zu bestehen gewagt, mit Ihnen persönlich zu sprechen, aber ich habe einen wichtigen Grund …«

      »Ja, Madame.«

      »Sie kennen uns, meinen Mann und mich. Sie wissen …«

      »Ja, Madame.«

      »Ich muss Sie ganz dringend sehen, Herr Kommissar. Es geschehen fürchterliche Dinge, und ich habe Angst. Würde meine Gesundheit es mir erlauben, ich käme sofort an den Quai des Orfèvres. Doch es ist Ihnen ja nicht unbekannt, ich bin seit Jahren schon an meine Wohnung gefesselt, hier im fünften Stock.«

      »Verstehe ich richtig, Sie möchten, dass ich vorbeikomme?«

      »Ich bitte Sie darum, Monsieur Maigret.«

      Das war starker Tobak! Sie sagte es höflich, aber bestimmt.

      »Ihr Mann ist nicht bei Ihnen?«

      »Er ist verschwunden.«

      »Hä? Lognon ist verschwunden? Seit wann?«

      »Ich weiß es nicht. Er ist nicht in seinem Büro, und niemand weiß, wo er steckt. Die Gangster waren heute früh wieder hier.«

      »Die was?«

      »Die Gangster. Ich werde Ihnen alles berichten. Ich kann es nicht ändern, selbst wenn Lognon dann wütend wird. Ich habe zu viel Angst.«

      »Sie wollen sagen, es sind Leute bei Ihnen eingedrungen?«

      »Ja.«

      »Mit Gewalt?«

      »Ja.«

      »Und Sie waren zu Hause?«

      »Ja.«

      »Haben die was mitgenommen?«

      »Vielleicht ein paar Papiere. Ich konnte es nicht überprüfen.«

      »Und das war heute früh?«

      »Vor einer halben Stunde. Aber die beiden anderen waren vorgestern schon da.«

      »Wie hat Ihr Mann reagiert?«

      »Ich habe ihn seither nicht gesehen.«

      »Ich komme.«

      Maigret glaubte es noch nicht. Nicht wirklich. Er kratzte sich den Kopf, wählte zwei Pfeifen, steckte sie in die Tasche, öffnete die Tür zum Büro der Inspektoren einen Spaltbreit.

      »Hat einer was von Lognon gehört die letzten Tage?«

      Der Name brachte immer ein Lächeln auf alle Lippen. Nein. Niemand hatte was von ihm gehört. Zwar war es sein brennender Wunsch, doch Lognon gehörte nicht zum Quai des Orfèvres, sondern zum zweiten Bezirk des 9. Arrondissements, und sein Büro war im Kommissariat der Rue de La Rochefoucauld.

      »Wenn jemand fragt, ich bin in einer Stunde zurück. Gibt’s unten ein Auto?«

      Er wickelte sich in seinen dicken Mantel, fand im Hof einen der kleinen Polizeiwagen und nannte die Adresse Place Constantin-Pecqueur. In den Straßen war es etwa so lustig wie unterm Glasdach der Gare du Nord, und die Passanten ertrugen stoisch das schmutzige Wasser, das die Autos über Gehsteige und Beine spritzten.

      Das Wohnhaus war gewöhnlich, hundert Jahre alt, ohne Aufzug. Maigret erklomm seufzend die fünf Stockwerke; schließlich öffnete sich eine Tür, ohne dass er klopfen musste; Madame Lognon, Augen und Nase rot, bat ihn murmelnd herein.

      »Ich bin Ihnen so dankbar, dass Sie kommen! Wenn Sie wüssten, wie sehr mein armer Mann Sie verehrt!«

      Das stimmte nicht. Lognon hasste ihn. Lognon hasste alle, die Glück hatten und am Quai des Orfèvres arbeiten durften, alle Kommissare, jeden, der einen höheren Dienstgrad hatte als er selbst. Er hasste die Älteren, denn sie waren älter, und die Jüngeren, denn sie waren jung. Er …

      »Nehmen Sie Platz, Herr Kommissar.«

      Sie war klein, mager, schlecht frisiert, trug einen Hausmantel aus Flanell in hässlichem Lila. Ihre Augen hatten tiefe Ringe, die Nase war spitz, und unaufhörlich legte sie die Hand links auf ihre Brust, wie jemand mit einer Herzkrankheit.

      »Ich habe lieber nichts angerührt, so können Sie sich selbst überzeugen …«

      Die Wohnung war winzig: Esszimmer, Wohnzimmer, Schlafzimmer, Küche und Bad, alles beengt, mit Türen, die man wegen der Möbel nicht richtig öffnen konnte. Auf dem Bett lag zusammengerollt ein schwarzer Kater.

      Madame Lognon hatte Maigret ins Esszimmer geführt, ganz offensichtlich wurde das Wohnzimmer nicht benutzt. Die Schubladen des Buffets enthielten kein Besteck, sondern Papiere, Notizhefte, Fotos, völlig durcheinandergewühlt; auf dem Fußboden lagen Briefe.

      »Ich glaube«, sagte er und zögerte, seine Pfeife anzustecken, »Sie beginnen besser mit dem Anfang. Eben, am Telefon, da war die Rede von Gangstern.«

      Vorher jedoch sagte sie im Tonfall eines Menschen, der längst ergeben ist ins Leiden:

      »Rauchen


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