Dem dunklen Rächer verfallen. Inka Loreen Minden

Dem dunklen Rächer verfallen - Inka Loreen Minden


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auch die Dirne nicht, wo genau der Club lag. Doch er musste bei seinen Ermittlungen vorsichtig sein, um nicht selbst ins Kreuzfeuer zu geraten. Früher oder später würden seine erfundenen Schürzenjägergeschichten niemandem mehr von seiner wahren Natur ablenken. Aber sobald er die Body Snatcher auffliegen ließ, würden hoffentlich auch keine jungen Menschen mehr entführt werden.

      Und was ist mit denen, die bereits in diesem Club gefangen gehalten werden?

      Fuck, wenn er sich vorstellte, Cole würde in deren Fänge geraten, drehte sich ihm der Magen um!

      Erneut widerstand er dem Drang, die Straße aufzusuchen, in der die winzige Kellerwohnung lag, und marschierte stattdessen nach Hause. Wenn dort doch wenigstens noch seine Mutter auf ihn warten würde, hätte er jemanden, mit dem er sich hitzige Wortgefechte liefern könnte. Sie waren nicht immer einer Meinung gewesen, hatten sich aber ansonsten respektiert und meist gut verstanden. In Nächten wie dieser fehlte sie ihm wirklich. Oft hatten sie bis weit nach Mitternacht in der Bibliothek gesessen, gelesen, einen guten Wein getrunken und geredet.

      Miles hatte sich um sie gekümmert, als ihr Augenlicht mehr und mehr erlosch. Doch ihr freches Mundwerk hatte nach wie vor ausgezeichnet funktioniert. Sie hatte nie ein Blatt vor den Mund genommen. Nachdem sie vor fünf Jahren seinem Vater nachgefolgt war, hatte sich Miles unendlich einsam gefühlt, vor allem, weil die plötzliche Stille im Haus zu Beginn unerträglich gewesen war. Zwar hatte er nie mit seiner Mutter darüber gesprochen, wie er wirklich empfand, aber vermutlich hatte sie es gewusst oder zumindest geahnt. Ein paar Mal wollte sie ihn regelrecht zu einer Heirat drängen, hatte Gesellschaftsfeiern für ihn organisiert und all die Damen eingeladen, die sie gerne als Schwiegertochter gesehen hätte. Ein Enkelkind wäre ihr größter Wunsch gewesen – zum Glück hatte Thomas ihr den noch erfüllt. Doch als Miles ihr nach der letzten von ihr organisierten Soiree versichert hatte, dass die Richtige bisher nie dabei gewesen war, hatte sie seine Wange berührt, ihre halb blinden Augen auf ihn gerichtet und zärtlich gemurmelt: »Du warst schon immer besonders und ganz anders als dein Bruder.«

      Miles wünschte sich verzweifelt, nichts Besonderes zu sein.

      Verborgen im Halbdunkel der unbeleuchteten Gassen marschierte er in die Nähe des Platzes, an dem sein Stadthaus lag, und nahm in einer düsteren Nebenstraße die Augenbinde ab. Erst dann betrat er den Cavendish Square.

      Für gewöhnlich trug er die Halbmaske unter seinem Kapuzencape, wenn er als der dunkle Rächer unterwegs war. Die Sehschlitze hatte er selbst in den schwarzen Stoff geschnitten. In Zukunft würde er immer eine Binde bei sich tragen, versteckt in einer geheimen Innentasche seines Fracks, auch wenn er nicht als Rächer unterwegs war. Denn der Zusammenstoß mit Cole vor dem Lagerhaus hatte ihn gelehrt, noch vorsichtiger zu sein.

      Er schob den feinen Seidenstoff in die Manteltasche und bog neben seinem Stadthaus in den Hinterhof ein. Zu dieser Zeit betrat er sein Heim nicht mehr durch den Haupteingang, sondern über die Küche. Keiner seiner Angestellten sollte mitbekommen, dass er sich spätnachts draußen herumtrieb. Zwar könnte er genauso gut von einem Clubbesuch oder einer Frau heimkehren, doch wenn alle ihn in seinem eigenen Bett glaubten, würde ihn niemand auch nur ansatzweise mit dem dunklen Rächer in Verbindung bringen.

      Alle, bis auf Cole. Verflucht! Miles hoffte, dass der junge Mann dieses Wissen niemals gegen ihn verwendete. Zum Glück hatte er keine Beweise.

      Miles stutzte, weil die Küchentür nicht ganz geschlossen war. Wenn sie nicht richtig abgesperrt wurde, sprang sie oft wieder auf. Er ging in die Hocke und tastete schnell nach dem Schlüssel, den er immer unter einem Stein verbarg. Er lag noch da!

      All seine Sinne standen plötzlich auf Alarmbereitschaft. Entweder hatte einer seiner Beschäftigten, der vielleicht noch einmal zum Stall gegangen war, vergessen, die Tür wieder zu verriegeln – was bisher noch nie geschehen war –, oder jemand hatte sich unbefugt Zugang verschafft! Miles schloss nämlich immer ab.

      Schnell schlüpfte er hinein und drehte den Schlüssel im Schloss. Falls sich der Einbrecher noch hier befand, wollte Miles ihn stellen. Es frustrierte ihn, heute Nacht wegen der Body Snatcher keine neuen Erkenntnisse erlangt zu haben und auch sonst keinem Verbrecher begegnet zu sein. Deshalb kam es ihm äußerst gelegen, sich nun doch noch austoben zu können. Der Bandit konnte sich schon einmal warm anziehen!

      Miles bemerkte auch sofort, dass die Kerze, die er stets für sich auf dem Küchentisch zurückließ, fehlte. Wer auch immer durch sein Heim spazierte, stellte ein leichtes Ziel dar. Miles brauchte sich nur auf seine Augen und Ohren zu verlassen. Da er jeden Winkel, jede Stufe und jedes Möbelstück seines Stadthauses kannte, konnte er sich auch in fast völliger Dunkelheit sicher bewegen.

      Zuerst durchsuchte er schnell die untere Etage und überlegte, Mrs Dipple zu wecken, ließ es dann jedoch bleiben, nachdem er überprüft hatte, dass die Tür zu ihren Räumlichkeiten abgesperrt und sie somit in Sicherheit war. Miles beschäftigte, etwas untypisch für einen Mann seines Ranges, keinen Butler, sondern eine Haushälterin. Mrs Dipple managte hier alles, gab der Dienerschaft Anweisungen, nahm deren Beschwerden entgegen und zahlte auch den Lohn. Außerdem kümmerte sie sich um den Einkauf sowie die Bevorratung. Ohne sie würde nichts laufen.

      Des Weiteren hatte Miles lediglich die Mindestanzahl an Dienstmädchen und Burschen engagiert, die nötig waren, um dieses Haus zu unterhalten, wie ein paar Stubenmädchen, eine Köchin und ihr Küchenmädchen, außerdem einen Knecht, der für ihn Besorgungen erledigte und die schweren Wassereimer trug. Er wohnte mit Miles’ Fahrer Godric, der die Kutsche instand setzte und die Pferde versorgte, in einem Anbau neben dem Stall.

      Als Miles’ Vater gestorben war, hatte er dessen betagten Kammerdiener weiterbeschäftigt, ihm jedoch bereits eine Woche später eine großzügige Abfindung spendiert und ihn in den Altersruhestand geschickt. Es war Miles unangenehm gewesen, dass ihn ein anderer Mann rasierte und er Tür an Tür mit ihm lebte. Schließlich wusste er nicht, ob er im Schlaf redete! Wegen seiner Neigung durfte er einfach niemanden zu nah an sich heranlassen …

      Nachdem ihm im Erdgeschoss nichts Ungewöhnliches aufgefallen war, stieg er die Treppen nach oben und huschte an seinem Arbeitszimmer vorbei. Dort drin versteckte er zwar wichtige Papiere, aber teuren Schmuck und andere Wertsachen bewahrte er in seinen ganz persönlichen Räumen auf. Auf diese Dinge hätte es ein Dieb wohl am ehesten abgesehen.

      Tatsächlich drang ein schwacher Lichtschein unter der Schwelle hindurch. Miles klopfte das Herz bis zum Hals, als er eines seiner Messer aus dem Stiefel zog. Anschließend öffnete er so behutsam und leise er konnte die Tür. Sein Schlafzimmer schien verlassen, es wirkte auch nicht verwüstet. Das Licht kam aus dem angrenzenden Ankleideraum, denn diese Tür stand weit offen. Leise Geräusche drangen an sein Ohr, ein hölzernes Schaben, als würde jemand Schubladen aufziehen. Der Einbrecher war also noch da! Miles hoffte, dass der Mistkerl allein gekommen war und ihn noch nicht bemerkt hatte. Er musste schnell sein, durfte nicht zögern. Doch er musste sich zuerst einen Überblick verschaffen. Da er bis auf seinen Knecht und den alten Kutscher überwiegend weibliches Personal beschäftigte, würde er bei mehr als drei Leuten die Behörden informieren. Er war schließlich nicht lebensmüde.

      Der weiche Teppich dämpfte seine Schritte, und er vermied es auf die Dielen zu treten, von denen er wusste, dass sie knarrten. Neben der offenen Tür drückte er sich mit einer Schulter gegen die Wand und spähte dann blitzschnell in den Raum.

      Sein Herz setzte einen Schlag aus. Jemand kniete mit dem Rücken zu ihm auf dem Boden und wühlte in einer Schublade seiner Kommode herum, auf der die vermisste Kerze stand. Der Mann trug ein einfaches, verwaschenes Hemd, braune Hosen und eine Kappe. Neben ihm lag ein Beutel.

      Moment … Miles sah erneut nach, doch diesmal gönnte er sich einen längeren Blick. Diese Statur kam ihm bekannt vor, genau wie das nackenlange schwarze Haar. Das war Cole!

      Der ließ gerade einen schwarzen Seidenschal durch seine Hände gleiten, schob einen Finger in ein Loch, das Miles dort hineingeschnitten hatte, und murmelte: »Ich wusste es, er ist der dunkle Rächer!«

      Cole zog seine Kappe ab und wollte sich allem Anschein nach den Schal vor die Augen binden. Miles nutzte den Moment, in dem der junge Mann abgelenkt war, und stürzte sich von hinten auf ihn. »Was hast


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