Dem dunklen Rächer verfallen. Inka Loreen Minden
St. James’s Street – einem der vielen Clubs, in denen er sich tagsüber gerne die Zeit vertrieb. Deshalb war er heute ausnahmsweise einmal nicht maskiert, sondern lediglich das Cape verhüllte seine wahre Identität. Miles schnappte bei einer Partie Whist oder Hazard oft jede Menge Gerüchte auf, die ihm bei seinen Vorhaben halfen. Aber nicht nur aus diesem Grund suchte er diese Etablissements auf, sondern auch, um dort das Verhalten der Männer zu beobachten, vor allem, ob sie heimlich jemanden anstarrten … auf ganz besondere Weise. Womöglich konnte er dadurch herausfinden, ob derjenige vielleicht dieselbe Neigung besaß wie er. Ob er sich trauen würde, einen Mann darauf anzusprechen, wusste er nicht. Es war einfach zu gefährlich.
Beim Kartenspiel vorhin hatte er zufällig Gespräche vom Nachbartisch belauscht – einer der Herren war mit einem Commissioner der Metropolitan Police befreundet, die, genau wie Miles, nach den Body Snatchern suchten. Es wurde vermutet, dass die Verbrecher ihre gefesselten und geknebelten Opfer zuerst in leerstehende Lagerhäuser an der Themse schafften, um sie von dort aus mit Booten oder Kutschen an ihre Zielorte zu bringen. Zumindest waren vier Kinderleichen, versteckt in zugenagelten Fässern, in zwei Lagerhäusern gefunden worden.
Miles erhoffte sich, endlich einen oder am besten alle dieser widerlichen Banditen stellen zu können. Für gewöhnlich verschnürte er danach die Täter und gab der Polizei anschließend einen anonymen Tipp, wo sie ein besonderes Präsent abholen konnte. Doch heute wollte er erst einmal spionieren. Außer seinen zwei langen Klingen hatte er keine weiteren Waffen dabei. Diese verbarg er im Schaft seiner Stiefel, allerdings kamen sie nur selten zum Einsatz, denn er war ein Meister des Faustkampfes. Hoffentlich konnte er seine beiden »Kraftrammen«, wie sein Freund Hastings seine Fäuste nannte, heute einsetzen, denn es zerriss ihn innerlich beinahe vor Sehnsucht nach etwas, das er nie haben durfte. Dabei fehlte ihm doch eigentlich nichts … fast nichts.
Tagsüber war er Miles Dunmoore, der Marquess of Rochford, und ein ganz gewöhnlicher Adliger. Nachts befreite er als der maskierte »dunkle Rächer« – wie ihn mittlerweile halb London nannte – die Straßen der Stadt vom gröbsten Abschaum. Er brauchte dieses geheime Doppelleben, ansonsten würde er wohl durchdrehen. Zwar lenkte ihn auch das Boxen von seiner abnormalen Natur ab, doch seit Hastings wieder geheiratet hatte und zum zweiten Mal Vater geworden war, fanden ihre geheimen Treffen im Herrenclub und die damit verbundenen sportlichen Betätigungen kaum noch statt.
Niemand wusste von seinen nächtlichen Aktivitäten, nicht einmal Hastings. Der hatte allerdings auch keine Ahnung, dass sich Miles zu Männern hingezogen fühlte. Es wäre vielleicht das Aus für ihre jahrelange Freundschaft, wenn Hastings davon erführe!
Miles murmelte einen Fluch, weil er sich so gerne jemandem anvertrauen würde, es aber nicht konnte. Geschickt mied er sämtliche Laternen, hielt Augen sowie Ohren offen und huschte von Gasse zu Gasse im Schutz der Dunkelheit weiter. Außer ihm streunten nur Katzen auf der Suche nach Mäusen, Ratten oder Essensresten durch die Stadt, und ein paar Huren verkauften ihre Körper.
Miles wusste von den Ecken, in denen auch Männer »Arbeit an der Hintertür« anboten. Die meisten verkleideten sich als Frauen, um nicht gleich aufzufallen. Aber in gewissen Kreisen war bekannt, dass man ihnen überwiegend in der Burlington Arcade, der Regent Street, Fleet Street, in der Strand und der Umgebung von Charing Cross begegnete. »Kreaturen« wurden diese geschminkten und kostümierten Männer abwertend von der normalen Bevölkerung genannt.
Ja, genau so fühlte er sich oft: wie eine Kreatur.
Warum musste ausgerechnet er von dieser krankhaften Neigung befallen sein? Dabei könnte doch alles perfekt sein! Als Adliger kannte er die schönen Seiten des Lebens, durfte prunkvolle Bälle besuchen, musste nicht hungern und auf sonst nichts verzichten – zumindest auf keine materiellen Dinge. Er führte ein privilegiertes Leben an einem der interessantesten Orte. Aber London war nicht nur eine der größten und wohlhabendsten Städte der Welt, sondern auch finster und unruhig. Armut, Krankheiten und Verbrechen hielten die Metropole fest in ihrem Griff. Zehntausende Obdachlose kämpften täglich ums Überleben und versuchten sich vor allem am Hafen als Tagelöhner durchzuschlagen. Oft kam es zu Plünderungen und Tumulten. Die Bevölkerung machte sich Luft wegen der ständigen Preiserhöhungen und der hohen Kindersterblichkeit und allgemein wegen der schlechten Lebensbedingungen.
Diese armen Menschen waren für gewöhnlich nicht sein Ziel. Wenn jemand einen Apfel stahl oder sich ein Kleidungsstück von einer fremden Wäscheleine zog, ließ er ihn laufen. Miles interessierte der wahre Abschaum. Menschen, die anderen wirklich ein Leid zufügten, sie verletzten, ausbeuteten, töteten. Aktuell hatte er es auf die »Body Snatcher« abgesehen. Vor einigen Jahren wurden so Leichenräuber bezeichnet, die heimlich Gräber öffneten oder die noch fast warmen Körper aus Krankenhäusern stahlen, um sie zu verkaufen.
Unzählige Medizinstudenten lernten an den neu gegründeten Universitäten, doch ihnen fehlte damals das »Übungsmaterial«. Offiziell standen ihnen nur gehängte Verbrecher zur Verfügung, aber es waren zu wenige, um die vielen hundert angehenden Ärzte zu versorgen, die täglich Nachschub an Anschauungsobjekten brauchten. Auch Zahnärzte und Perückenmacher gehörten zu den Kunden der Body Snatcher. Je frischer der Körper war, den die Snatcher den Medizinern oder anderen Interessenten brachten, desto mehr Geld gab es – und hier hatte damals das Problem gelegen. Anstatt die Friedhöfe zu plündern, wurden hinterrücks überwiegend junge Männer oder sogar Kinder getötet. Unzählige von ihnen lebten schließlich allein oder in Gangs auf der Straße; niemand würde sie vermissen.
Miles hatte alles getan, um diese Mörder zur Strecke zu bringen, bis vor drei Jahren ein Anatomiegesetz verabschiedet wurde, das es heute den Ärzten erlaubte, die Verstorbenen aus den staatlichen Arbeitshäusern zu Sektionszwecken zu benutzen. Die illegalen Obduktionen hatten endlich ein Ende, denn den Studenten standen nun mehr Leichen zur Verfügung, als sie brauchten, da in den Arbeitshäusern menschenunwürdige Bedingungen herrschten. Doch leider war der Beruf des Body Snatchers mit dem neuen Gesetz nicht ausgestorben, wie sich viele erhofft hatten. Die finsteren Gesellen hatten sich einfach neuen, noch grausameren Tätigkeitsfeldern zugewandt. Miles wusste zwar noch nicht genau, was sie mit ihren Opfern anstellten, aber er ahnte, dass sie ein schrecklicheres Schicksal erleiden mussten als den Tod.
Wie er heute gehört hatte, sollten die Body Snatcher in alten Lagerhäusern zusammenkommen, bevor sie ihre Menschenraubzüge planten. Stunden später kehrten sie wieder dorthin zurück, um ihre »Fänge« einzusperren, zu betäuben und zum Weitertransport auf Kutschen oder Booten vorzubereiten. Dabei handelte es sich – soweit Miles bisher wusste – in der Regel um halbe Kinder, die in leere Fässer oder Kisten gezwängt wurden. Den traurigen Beweis dafür lieferten die vier kleinen Leichen, die man in Hafennähe gefunden hatte. Ein Detail allerdings erschien nur wenigen bemerkenswert: Drei der Toten stammten offensichtlich ursprünglich nicht aus England, sondern wiesen die etwas dunklere Haut und die schwarzen Haare von Südländern auf.
Seit Jahren schleusten Menschenhändler überwiegend italienische Jungen in die Stadt, beinahe fünfzehntausend obdachlose Kinder sollten Schätzungen zufolge bereits hier leben. Meist stammten sie aus ärmlichen Verhältnissen und wurden ihren Eltern gegen ein Handgeld abgekauft. Für gewöhnlich sah man diese Jungs an den Straßenecken stehen. Sie boten neugierigen Passanten für ein paar Pennys oder wenige Shilling einen Blick auf ihre »Kuriositäten« – die sie bei ihren Herren mieten mussten –, wie uniformierte Äffchen, tanzende Hunde in Kostümen oder aus Wachs geformte Siamesische Zwillinge.
Diese jungen Menschen stellten ein leichtes Ziel für die Body Snatcher dar, denn sie waren nirgendwo registriert, und keiner außer ihren Herren – die gewiss nicht zur Polizei gingen – würde sie vermissen.
Miles presste den Rücken gegen die Wand eines Lagerhauses, als die dicken Wolken am Himmel weiterzogen und der Vollmond sein kaltes Licht auf das Hafenviertel warf. Es roch nach vergammeltem Fisch und Kloake, und kein anderer Adelige würde sich jemals in diese Gegend wagen. Aber Miles war an Dreck und Gestank gewöhnt, das machte ihm alles nichts aus. In seinem luxuriösen Zuhause wartete außerdem eine Wanne auf ihn, die seine Dienerschaft mit warmem Wasser füllte, wann immer er ein Bad nehmen wollte, auch mitten in der Nacht.
So viel Luxus – und er hatte niemanden, mit dem er ihn teilen konnte.
Vielleicht