Night Team. Michael Connelly
besten Leute, und deshalb würde ich ihn gern so bald wie möglich wieder losschicken.«
»Klar.« Bosch folgte Munroe auf den Flur hinaus, der zum Büro des Schichtleiters und zum Schreibzimmer führte, in dem Dvorek wartete. Bosch drehte sich im Gehen kurz zu Ballard um und nickte. Ballard schaute ihm bloß hinterher.
Als die beiden Männer weg waren, ging sie zu dem Aktenschub, in den Bosch geschaut hatte. Daran war mit Klebstreifen eine Visitenkarte befestigt, wie das unter den Ermittlern zur Kennzeichnung ihrer Schübe allgemein üblich war.
Detective Cesar Rivera
Hollywood Station
Sexualdelikte
Sie schaute in den Schub. Er war nur halb voll, und die Ordner waren nach vorn gekippt. Das hatte vermutlich Bosch getan, als er sie durchgesehen hatte. Ballard richtete sie wieder gerade und schaute, was auf den Reitern stand. Das waren hauptsächlich die Namen von Opfern und Fallnummern. Auf einigen standen auch die großen Straßen im Revier der Hollywood Division; sie enthielten vermutlich Meldungen über verdächtige Aktivitäten oder Personen.
Sie schloss den Schub und schaute in die zwei darüber, denn sie hatte Bosch mindestens drei Schübe öffnen gehört.
Sie unterschieden sich nicht vom ersten und enthielten Ordner, die vorwiegend nach dem Namen des Opfers, der Kategorie des Sexualdelikts und der Fallnummer angeordnet waren. Als sie im obersten Schub eine aufgebogene Büroklammer liegen sah, nahm sie das Drucktastenschloss in der oberen Ecke des Aktenschranks genauer in Augenschein. Es war ein einfaches Modell, das sich mit einer Büroklammer problemlos öffnen ließ. Da die Unterlagen in einer Polizeistation aufbewahrt wurden, mussten sie nicht groß gesichert werden.
Ballard schloss die Schübe, drückte auf den Knopf des Schlosses und kehrte an den Schreibtisch zurück. Je länger sie über Boschs späten Besuch nachdachte, desto mehr gelangte sie zu der Überzeugung, dass er den Aktenschrank mit der Büroklammer geöffnet hatte und demnach nicht nur ein oberflächliches Interesse am Inhalt seiner Schübe haben konnte. Er hatte keineswegs aus einer nostalgischen Anwandlung heraus in seinen alten Aktenschrank geschaut.
Sie holte ihre Kaffeetasse und ging damit in den Aufenthaltsraum, der wie üblich verlassen war. Sie schenkte sich Kaffee ein und ging ins Büro des Schichtleiters. Lieutenant Munroe saß an seinem Schreibtisch und schaute auf einen Bildschirm mit einer Karte des Reviers, auf der per GPS die Standorte der einzelnen Streifeneinheiten angezeigt wurden. Er hörte Ballard erst, als sie schräg hinter ihm stehen blieb.
»Viel los?«, fragte sie.
»Im Moment nicht.«
Ballard deutete auf eine Gruppe von drei GPS-Markierungen.
»Was ist denn da passiert?«
»Das ist nur der Mariscos-Reyes-Truck. Dort sind gerade drei Einheiten auf Code 7.«
Die Streifen waren an einem Foodtruck im Sunset, Ecke Western essen. Das erinnerte Ballard daran, dass sie noch keine Pause gemacht hatte und Hunger bekam. Ob sie allerdings Lust auf Seafood hatte, war eine andere Frage.
»Was wollte Bosch eigentlich hier?«
»Mit Relic über eine Leiche reden, die er vor neun Jahren gefunden hat. Anscheinend rollt Bosch einen Fall neu auf.«
»Er hat gesagt, er ist noch ein Cop. Aber nicht bei uns, oder?«
»Nein, er ist Reservist beim San Fernando Police Department, oben im Valley.«
»Was kümmert die in San Fernando ein Mord hier unten?«
»Keine Ahnung, Ballard. Hätten Sie lieber ihn gefragt, solange er noch hier war. Jetzt ist er weg.«
»Das war aber ein kurzer Besuch.«
»Weil sich Relic an nichts erinnern konnte.«
»Ist Dvorek noch da?«
Munroe deutete auf die Drei-Streifen-Ansammlung auf dem Bildschirm.
»Er ist auch bereits wieder los, aber im Moment Code 7.«
»Dann werde ich auch gleich mal hinfahren und mir ein paar Shrimp-Tacos holen. Soll ich Ihnen was mitbringen?«
»Nein, danke. Nehmen Sie ein Funkgerät mit.«
»Alles klar.«
Auf dem Weg zurück ins Detective Bureau ging sie noch mal in den Aufenthaltsraum, wo sie den Kaffee in die Spüle schüttete und die Tasse ausspülte. Dann nahm sie ein Funkgerät aus der Ladestation und ging durch den Hinterausgang zu ihrem Streifenwagen hinaus. Es war, wie in der Mitte ihrer Schicht üblich, spürbar kühler geworden, weshalb sie ihr Jackett aus dem Kofferraum nahm und anzog, bevor sie losfuhr.
Relics Streife stand immer noch neben dem Foodtruck, als Ballard eintraf. Da Dvorek als Sergeant allein in einem Wagen unterwegs war, traf er sich in den Pausen gern mit anderen Streifenpolizisten.
»Sally Ride«, sagte er, als er Ballard die Kreidetafel mit den Gerichten studieren sah.
»Und, Relic, wie steht’s?«, sagte sie.
»Na ja, wieder mal eine Nacht im Paradies zur Hälfte rum.«
»Was willst du mehr?«
Ballard bestellte einen Shrimp-Taco und machte aus einer der Flaschen auf dem Zutatentisch ordentlich scharfe Soße drauf. Dann ging sie zu Dvorek, der am vorderen Kotflügel seines Streifenwagens lehnte. Er hatte fast zu Ende gegessen. Zwei andere Streifenpolizisten hatten ihr Essen auf der Motorhaube ihres Schwarz-Weißen ausgebreitet, den sie vor Relics Wagen geparkt hatten.
Ballard lehnte sich an den Kotflügel neben ihm.
»Was hast du heute?«, fragte Dvorek.
»Shrimps«, sagte Ballard. »Ich bestelle nur Sachen von der Tafel. Dann ist es auf jeden Fall frisch. Sie wissen erst, was es gibt, wenn sie unten am Hafen eingekauft haben.«
»Wer’s glaubt, wird selig.«
»Ich will eben gern selig werden.«
Sie nahm den ersten Bissen von ihrem Taco. Er war gut und hatte keinen fischigen Beigeschmack.
»Nicht übel«, bemerkte sie.
»Ich hatte die Fisch-Tacos«, sagte Dvorek. »Wahrscheinlich ziehen sie mich spätestens dann aus dem Verkehr, wenn sie den unteren Verdauungstrakt erreichen.«
»So genau wollte ich das gar nicht wissen, Sarge. Aber ganz was anderes, was wollte eigentlich dieser Bosch von dir?«
»Hast du ihn noch mitbekommen?«
»Ich habe ihn erwischt, wie er in den Aktenschränken im Detective Bureau rumgeschnüffelt hat.«
»Ja, er weiß nicht mehr weiter. Sucht in einem Fall, an dem er gerade arbeitet, verzweifelt nach Anhaltspunkten.«
»In Hollywood? Arbeitet er zurzeit nicht für das San Fernando Police Department?«
»Schon, aber mit dieser Sache befasst er sich mehr oder weniger privat. Ein Mädchen, das hier vor neun Jahren umgebracht wurde. Ich habe damals die Leiche gefunden, aber leider konnte ich mich an nichts erinnern, was ihn weitergebracht hätte.«
Ballard nahm einen weiteren Bissen von ihrem Taco und nickte. Die nächste Frage stellte sie mit dem Mund voller Krabben und Tortilla.
»Was war das für ein Mädchen?«
»Eine Ausreißerin. Daisy. Sie war fünfzehn, ist aber schon auf den Strich gegangen. Traurige Geschichte das. Ich habe sie ab und zu auf dem Hollywood Boulevard gesehen, oben bei der Western Avenue. Und dann ist sie eines Tages zum Falschen ins Auto gestiegen. Ich habe ihre Leiche in einer Seitenstraße des Cahuenga Boulevard gefunden. Nach einem anonymen Anruf – daran erinnere ich mich noch.«
»War das ihr Straßenname?«
»Nein, so hat sie richtig geheißen. Daisy Clayton.«
»Hat damals Cesar Rivera schon bei Sexualdelikte