Die Zeit vor dem Tod: Teil 1. Jesper Bugge Kold
Jesper Bugge Kold
Die Zeit vor dem Tod: Teil 1
Saga
Die Zeit vor dem Tod: Teil 1 Copyright © 2018, 2019 Jesper Bugge Kold und SAGA Egmont
1. Ebook-Auflage, 2019
Format: EPUB 2.0
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Teil 1
Sanft und mit behaglichem Schmatzen schwappt das Wasser gegen den Rumpf des Schiffes. Normalerweise beruhigt das Geräusch Axel, aber nicht heute. Sonst erinnert es ihn an Sonnenstrahlen im Sommer, an Opas Jolle, daran, wie sie zusammen Netze ausgelegt und zur Südspitze Schwedens, die man deutlich sehen konnte, rübergeschaut haben, wie sie ihre Lunchpakete gemampft und Zitronensaft dazu getrunken haben. Aber in Zukunft wird er etwas anderes mit dem Geräusch verbinden: Unsicherheit und Angst.
Er hätte es ahnen müssen. Poul, Keld und einige der anderen, die von den Nazis so begeistert sind, waren kurz vor dem Fliegeralarm aus dem Polizeipräsidium verschwunden. Im Nachhinein entpuppten sich ihre „dienstlichen Belange“ als faule Ausreden. Als die Sirenen losheulten, hörte Axel Explosionen, lautes Rufen und Schüsse. Jeder Widerstand war zwecklos, die Deutschen hatten das Präsidium umstellt und sie hatten Maschinengewehre und Panzerfäuste.
Ohne Rücksicht auf ihren polizeilichen Rang mussten sie sich in Reihen aufstellen. Axel stand hinter Inspektor Ruggård, aber in diesem Moment waren sie gleich. Der sonst so barsche Inspektor schien wie verwandelt. Mit krummem Rücken stand er da wie eine zusammengesunkene Marionette, und als einer der Soldaten einige Warnschüsse in die Luft abfeuerte, um für Ruhe zu sorgen, zuckte Ruggård zusammen wie ein verängstigtes Kind. In diesem Augenblick wurde allen klar, wie ernst ihre Lage war.
Sie wurden gefilzt und entwaffnet und stundenlang ließ man sie im kreisrunden Innenhof des Präsidiums stehen und warten. Dann wurden sie auf die Otto Mønsteds Gade gedrängt und auf Lastwagen gescheucht, die bereit standen. Auf den Ladeflächen empfingen deutsche Soldaten sie, mit entsicherten Maschinenpistolen im Anschlag.
Die Lastwagen setzten sich in Bewegung, rumpelten durch die Straßen der Kopenhagener Innenstadt, Vestre Boulevard, Nørre Voldgade, Østre Voldgade, an der Schwedischen Kirche vorbei. Die Stadt zog vor ihren Augen vorüber. Das Tor zum Freihafen. Am Ende des Langelinjekais lag ein Schiff, M/S Cometa konnte Axel am Achtersteven entziffern. Sie warteten darauf an Bord gelassen zu werden. Sie waren die Ladung.
Sie sind viel zu viele hier unten im Laderaum. Axel versucht, eine erträgliche Position zu finden, kann sich aber so gut wie nicht bewegen. Wie Jutesäcke werden sie gestapelt. Im Vorschiff ist sehr wenig Platz. Sie können nicht stehen, sie können nicht sitzen. Ihre Rücken stoßen aneinander, ihre Beine verhaken sich. Fast liegen sie übereinander.
Das Schiff befindet sich noch im Hafen. Es ist Abend und sie haben Angst. Einige meinen, man werde sie nach Bornholm bringen, einige meinen nach Deutschland. Wieder andere glauben, das Schiff werde auf offener See versenkt, mitsamt seiner Ladung. Mit ihnen.
Er denkt, dass der Meeresgrund immer noch besser ist als Deutschland. Alle haben die Gerüchte über die Konzentrationslager gehört und es sind zu viele, als dass es bloße Schauergeschichten sein könnten. Wenn sie dort landen, wird Axel wahrscheinlich nicht zurückkehren.
Er sieht Kamma vor sich. Sie lehnt sich gegen den Küchentisch. Eine Hand auf dem stetig wachsenden Bauch. Seine Hand auf ihrer Hand. Bald wird ihre kleine Wohnung Zuwachs bekommen. Der Gedanke, dass er heute nicht von der Arbeit nach Hause kommen wird, dass er nicht an seinem gewohnten Platz am Tisch sitzen und sein Abendessen zu sich nehmen wird, Kamma sich nicht an ihn schmiegen wird, brennt als beißender Schmerz in seiner Magengrube. Wann er sie wohl wiedersehen wird? Wird sie erfahren, was mit ihm geschehen ist? Und was wird mit ihm geschehen?
Die Ladeluken sind fest verschlossen. Nicht lange, und die Luft wird stickig. Sie hat kaum noch Energie in sich, ist warm und drückend. Es stinkt nach Motoröl und zusammengepferchten Menschen. Axel hält sich den Ärmel vor Mund und Nase. Neben ihm ringt Johannes nach Luft. Es dringt keinerlei frische Luft hier nach unten. Sie wird nur immer schwerer und schlechter. Einige werden ohnmächtig.
„ Macht endlich die Luken auf, zum Teufel!“ Mit aller Kraft schlägt Axel gegen die Schiffswand. „Wir kriegen keine Luft.“
Johannes stöhnt und schnappt krampfhaft nach Luft.
„ Helft mir“, sagt Axel.
Während Erik Johannes stützt, löst Axel die Krawatte des älteren Polizeihauptwachtmeisters und knöpft dessen Hemd auf. Johannes' Gesicht ist feuerrot. Seine Hände fuchteln, als wolle er sich irgendwo festhalten. Ein pfeifender Laut ist zu hören, jedes Mal wenn er versucht einzuatmen. Axel fasst seine Hand und Johannes drückt sie fest und lange. Er beruhigt sich ein wenig. Plötzlich folgt ein lauter, langgezogener Atemzug, dann ein Keuchen und der Körper bewegt sich nicht mehr. Johannes ist tot.
Lange sitzen sie da, zwischen sich den toten Polizeihauptwachtmeister. Er wird nur einer von vielen sein, denkt Axel. Wen wird es als Nächsten treffen?
Erik hat seine Uhr noch. Es ist Nacht, als ein paar Soldaten Johannes' Leiche wegschaffen. Die wenigen Momente, in denen die Ladeluke geöffnet ist, saugen alle gierig die Luft ein. Oben auf Deck sind Rufe zu hören und jemand schießt. Das Schiff schlägt gegen den Kai. Alle fallen durcheinander und Axel verkeilt sich mit Erik und einem jüngeren Kollegen. Das Schiff setzt sich in Bewegung. Dumpf vor sich hin hämmernd arbeitet der Motor und ein schwerer Geruch nach Öl breitet sich wieder im Laderaum aus.
Stoisch stampft das Schiff durch die Nacht. Niemand schläft und die Nacht ist unendlich lang. Erst am nächsten Vormittag bekommen sie etwas zu essen. Brot, ein wenig Wurst und Wasser. In kleinen Gruppen dürfen sie an Deck und frische Luft schnappen. Axel wartet den ganzen Tag lang. Als er an der Reihe ist, versinkt am Horizont gerade die Sonne. Es ist ein schöner Anblick.
Zurück im Laderaum versucht er vor Augen zu behalten, was er eben gesehen hat. Plötzlich werden die Luken geschlossen. Um sie herum ist alles stockdunkel. Er kann die Ankerkette hören, die rasselnd nach unten fällt, dann den Anker, der mit einem Platschen im Wasser versinkt. Nicht weit von ihm versucht jemand ein Schluchzen zu unterdrücken.
Noch eine Nacht vergeht, ohne Schlaf und quälend langsam. Dann das Geräusch des Ankerspills und das Schiff setzt sich in Bewegung. Ein paar Stunden später spürt er, wie der Rumpf an einem Kai andockt. Die Ladeluken werden geöffnet und sie dürfen nach oben ins Freie.
Axel tippt Erik auf die Schulter. Er soll fragen, denn er kann Deutsch. Erik will nicht, aber Axel überzeugt ihn davon, dass sie wissen müssen, wo sie sich befinden. Widerwillig wendet sein Kollege sich an einen jungen Matrosen.
„ Wo sind wir?“
„ Lübeck“, lautet die kurze Antwort.
Axels schlimmste Befürchtungen sind wahr geworden. Sie sind in Deutschland.
Die Lichtkegel der Scheinwerfer schneiden große Löcher in die Dunkelheit. Sie sind an den Gebäuden auf dem Kai angebracht, wie Augen, die sie überwachen. Dann treffen die Lichter Axel und bohren sich in ihn hinein, sodass es fast körperlich wehtut. Sie finden ihn unter den anderen und fixieren seine riesenhafte Gestalt auf den Deckplanken des Schiffs.
Der Kai ist mit mehreren Reihen Stacheldraht eingezäunt. Gänge und Wege führen hindurch wie in einem verwinkelten Dorf aus spitzem, scharfkantigen Metall. Wie angewurzelt steht er da, paralysiert von dem ungastlichen Empfang.
Überall sind Soldaten und sie sehen alle gleich aus: starrende Augen unter dem Rand eines Stahlhelms, Maschinenpistole an die Hüfte gedrückt, den Finger am Abzug. Die Scheinwerfer projizieren ein glänzendes Licht auf ihre Uniformen. Ihre Bewegungen sind schnell und