An einem einsamen Ort - Ein Schweden-Krimi. Mari Jungstedt
Agnes fuhr ein Stück vor, auch wenn sie sehr gut neben ihrer Schwester hätte fahren können. Auf diesem Weg gab es fast nie Verkehr, nicht einmal im Hochsommer. Agnes aber wollte immer gern die Erste sein. Sie hatte am Wegesrand einen Grashalm ausgerupft und kaute darauf herum, sie mochte den frischen Pflanzensaft.
Der Kiesweg führte zuerst durch den Wald, danach öffnete sich die Landschaft. Felder und Weiden lagen Seite an Seite, dahinter glitzerte das Meer im Sonnenlicht. Am Weg lagen mehrere Höfe, und Pferde, Kühe und Schafe standen auf den Weiden. Beim letzten aus Kalkstein errichteten Hof am Weg passierten sie einen ausgedehnten Garten, dann konnten sie zum Strand hin abbiegen. Die Pferde, drei Gotlandsrussen und ein Fjordpferd, waren um diese Jahreszeit rund um die Uhr im Freien, ebenso wie die dickfelligen Gütenschafe. Die Böcke mit ihren typischen geschwungenen Hörnern boten einen prachtvollen Anblick. Die Tiere gehörten dem Bauern, der auf dem Hof wohnte. Bisweilen durften die Mädchen bei ihm reiten. Der Bauer hatte eine einige Jahre ältere Tochter, die sie mitnahm, wenn sie gerade nichts anderes vorhatte. Agnes und Sofie waren oft zu Besuch bei ihren Großeltern. Die Sommerferien verbrachten sie fast ganz hier in Petesviken auf Südwestgotland, während die Eltern zu Hause in Visby bei der Arbeit waren.
»Warte, wir können den Pferden guten Morgen sagen«, schlug Agnes vor und hielt am Zaun an. Sie schnalzte mit der Zunge und stieß einen Pfiff aus, was sofort Wirkung zeigte. Die Tiere hoben die Köpfe und trotteten auf die Mädchen zu.
Der größte Bock fing an zu blöken. Ein anderer folgte diesem Beispiel, und dann blökten alle Schafe im Chor. Sie drängten sich vor dem Zaun in der Hoffnung auf einen Leckerbissen. Die Mädchen streichelten sie, so gut das möglich war. Wenn sie allein waren, trauten sie sich nicht in das Gehege.
»Wo steckt Pontus?«
Agnes schaute sich suchend um. Es gab hier nur drei Pferde. Und ihr Liebling, ein schwarz-weiß gescheckter Wallach, ließ sich nicht sehen.
»Vielleicht ist er hinten bei den Bäumen.«
Sofie zeigt auf das Wäldchen, das sich als dunkelgrünes Band mitten durch die Koppel zog.
Die Mädchen riefen, warteten einige Minuten, aber Pontus ließ sich noch immer nicht blicken.
»Ist doch egal«, sagte Sofie. »Jetzt gehen wir baden.«
»Komisch, dass er nicht kommt.« Agnes runzelte die Stirn. »Wo er so gern gestreichelt wird.« Ihr Blick wanderte über die Wiese, vorbei an der Tränke, den Salzsteinen und dem weiter hinten gelegenen Wäldchen.
»Ach, das kann uns doch egal sein, der pennt sicher noch.« Sofie versetzte ihrer Schwester einen Rippenstoß. »Du wolltest doch unbedingt baden, also komm jetzt.«
Sie stieg auf ihr Rad.
»Aber Pontus müsste doch irgendwo zu sehen sein.«
»Sicher haben sie ihn in den Stall geholt. Wahrscheinlich will Veronika reiten.«
»Aber wenn er jetzt krank ist und nicht aufstehen kann! Er kann sich doch das Bein gebrochen haben und irgendwo hier liegen. Wir müssen nachsehen.«
»Jetzt nerv doch nicht so rum. Wir können doch auf dem Rückweg nach ihm sehen.«
Obwohl die Gotlandsrussen gutmütig und ziemlich klein waren, hatte Sofie doch Respekt vor ihnen und wollte die Koppel nicht betreten. Das Fjordpferd war groß und machte einen unzuverlässigen Eindruck, einmal hatte es nach ihr getreten. Und die Böcke mit ihren riesigen Hörnern waren auch ein wenig beängstigend.
Agnes überhörte den Protest ihrer Schwester, öffnete das Tor und trat ins Gehege.
»Mir ist Pontus jedenfalls nicht egal«, rief sie wütend.
Sofie stöhnte laut. Widerwillig sprang sie vom Rad und lief hinter Agnes her.
»Dann geh du als Erste«, murmelte sie.
Agnes klatschte in die Hände und stieß laute Rufe aus, und die Tiere stoben in alle Richtungen auseinander. Sofie drückte sich an ihre große Schwester und schaute sich besorgt um. Das hohe Gras kitzelte und stach in ihre Waden. Pontus war nirgendwo zu sehen.
Als sie das Wäldchen erreicht hatten, ohne ihn zu entdecken, kletterte Agnes auf der gegenüberliegenden Seite auf den Zaun, um sich einen besseren Überblick zu verschaffen.
»Sieh mal«, rief sie und zeigte auf den Waldrand.
Dort, ein Stück von ihnen entfernt, sah sie Pontus auf der Seite liegen. Er schien zu schlafen. Über ihm kreiste eine schreiende und krächzende Krähenschar.
»Da ist er! Der schläft wie ein Stein!«
Eifrig lief sie auf das Pferd zu.
»Na also. Dann war es ja nicht weiter schlimm. Wir müssen doch nicht den ganzen Weg zu ihm laufen?«, protestierte Sofie.
Die Sicht war teilweise versperrt. Das Pferd rührte sich nicht von der Stelle.
Das Einzige, was sie hörten, war das Geschrei der Krähen. Agnes fand es seltsam, dass sich hier so viele Krähen angesammelt hatten, und lief vorweg. Als sie das Pferd erreicht hatte, blieb sie so plötzlich stehen, dass ihre Schwester ihr in den Rücken lief.
Pontus lag im Gras, und sein Fell glänzte in der Sonne. Dieser Anblick hätte sie beruhigen können, doch etwas war nicht so, wie es sein sollte. Dort, wo bisher sein Kopf gewesen war, klaffte gähnende Leere. Sein Hals war durchgetrennt worden – dort war nun ein großes, blutiges Loch, und die Fliegen kreisten als surrende schwarze Wolke um die fleischige Öffnung.
Hinter sich hörte Agnes einen Aufprall, als ihre Schwester ohnmächtig zu Boden fiel.
Kriminalkommissar Anders Knutas entdeckte zu seiner Verärgerung, dass sich unter seinen Armen bereits Schweißflecken ausgebreitet hatten, als er seinen altehrwürdigen Mercedes vor dem Polizeidezernat parkte. Es war einer der seltenen Tage im Jahr, wo es sich quälend bemerkbar machte, dass der alte Wagen keine Klimaanlage hatte, und das war Wasser auf die Mühlen seiner Frau Line, die für die Anschaffung eines neuen Autos plädierte.
Normalerweise wäre er nicht auf die Idee gekommen, zur Arbeit zu fahren, denn sein Haus lag direkt vor der Söderport, nur wenige Kilometer von seinem Arbeitsplatz entfernt. Knutas arbeitete seit fünfundzwanzig Jahren bei der Polizei von Visby, und die Tage, an denen er nicht zu Fuß zum Dienst gegangen war, waren leicht zu zählen. Er machte oft beim Solbergabad Halt und schwamm dort einen oder zwei Kilometer. Im August würde er seinen fünfzigsten Geburtstag feiern und in den letzten Jahren spürte er, wenn er sich nicht genügend bewegte. Er war sein Leben lang ziemlich schlank gewesen, und das sollte auch so bleiben. Nur verlangte das jetzt eben ein wenig Anstrengung. Das Schwimmen hielt ihn in Form und half ihm beim Denken. Je komplizierter der Fall war, an dem er arbeitete, umso häufiger suchte Knutas die Schwimmhalle auf. Der letzte Besuch lag jetzt allerdings schon einige Zeit zurück. Er wusste nicht, ob das ein gutes oder ein schlechtes Zeichen war.
An diesem letzen Tag im Juni wollte die Familie zum Ferienhaus in Lickershamn fahren, um dort den Rasen zu mähen und zu gießen. Knutas hatte vor, früh Feierabend zu machen, um seine Frau nach Ende ihrer Schicht auf der Station im Krankenhaus abzuholen. Petra und Nils, die fast dreizehn Jahre alten Zwillinge, wollten überraschend ebenfalls mitkommen, obwohl sie derzeit zumeist die Gesellschaft ihrer Clique vorzogen.
Als er die Eingangstür durchschritt, empfing Knutas kühle Luft. Auf dem Gang des Kriminaldezernats herrschte Schweigen. Die Ferien hatten begonnen, und das spürte man.
Knutas’ engste Mitarbeiterin, die Kriminalinspektorin Karin Jacobsson, telefonierte, als er an ihrem Zimmer vorbeilief. Knutas und Karin arbeiteten seit fünfzehn Jahren zusammen und kannten einander auf professioneller Ebene gut. Wenn es um ihr Privatleben ging, war Karin allerdings umso verschwiegener.
Sie war achtunddreißig Jahre alt und lebte allein, Knutas hatte auch nie von einem Freund gehört. Sie wohnte mit ihrem Kakadu in einer Wohnung in Visby und widmete ihre Freizeit vor allem dem Fußball. Jetzt gestikulierte sie mit den Armen und redete mit lauter, eifriger Stimme. Sie war dunkelhaarig und nicht besonders groß, ihre braunen