Aristoteles. Eine Einführung. Wolfgang Detel

Aristoteles. Eine Einführung - Wolfgang Detel


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      Wolfgang Detel

      Aristoteles

      Reclam

      2005, 2021 Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen

      Durchgesehene und erweiterte Ausgabe 2021

      Gesamtherstellung: Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen

      Made in Germany 2021

      RECLAM ist eine eingetragene Marke der Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart

      ISBN 978-3-15-961829-6

      ISBN der Buchausgabe 978-3-15-019690-8

       www.reclam.de

      [7]Aristoteles – Kritiker und Innovator

      Es war ungefähr im Jahre 360 v. Chr., als sich eines Tages die führenden Mitglieder der Platonischen Akademie zu einem wichtigen Treffen im großen Vorlesungssaal der Schule einfanden. Unter ihnen befand sich ein junger Thraker von etwa 24 Jahren, der damals bereits rund sieben Jahre in der Platonischen Akademie gelebt, studiert und gearbeitet hatte. Er wusste wie alle anderen Anwesenden auch um die Bedeutung des Ereignisses, das an diesem Tage stattfinden sollte. Platon (um 428–348 v. Chr.), mit seinen fast 70 Jahren immer noch ein kreativer Denker, wollte seinen neuesten Dialog unter dem Namenstitel Parmenides veröffentlichen, d. h. von einem gebildeten Sklaven erstmals vorlesen lassen. Als der Vorleser an jenem Morgen den Vorlesungssaal betrat, herrschte knisternde Spannung. Denn es wurde allgemein erwartet, dass Platon endlich zu den schweren Angriffen gegen seine Formentheorie Stellung nehmen würde, die in den Jahren zuvor seitens einiger führender Akademiemitglieder, z. B. des Mathematikers Eudoxus, formuliert worden waren.

      Auch der junge Thraker hatte sich an dieser Kritik beteiligt und wird daher am Tage der Parmenides-Vorlesung besonders gespannt gewesen sein. Und er wird sich, eitel und ehrgeizig, wie er zuweilen sein konnte, nicht wenig geschmeichelt gefühlt haben, als er die Szenerie des neuen platonischen Dialoges kennen lernte: Ein junger, eigenständig denkender Mann mit Namen »Sokrates« formuliert höflich, aber unverblümt die Probleme, die er mit der frühen platonischen Formenlehre verknüpft sieht – unter ihnen auch jene, die der Thraker selbst vorgebracht hatte; [8]und der Gesprächspartner des Sokrates, ein erfahrener philosophischer Meister namens Parmenides, nimmt die Kritik ernst, warnt ihn aber auch vor allzu raschen Antworten und schlägt eine längere und schwierige philosophische Denkübung als Vorbereitung zur Klärung der Probleme vor. Dazu greift er sich als Dialogpartner einen jungen Mann heraus, der Aristoteles heißt (Plat. Parm. 126a–136e, 137b–c).

      Für das Auditorium der Parmenides-Lesung stand fest, dass Platon mit dieser Szenerie das kritische philosophische Engagement des jungen Thrakers Aristoteles (um 384–322 v. Chr.) öffentlich anerkennen wollte, ihn aber zugleich zu weiteren philosophischen Überlegungen ermunterte und ihm höchstes philosophisches Niveau zutraute. Die Szenerie des Dialogs Parmenides ist eines von vielen Indizien dafür, dass die Platonische Akademie nicht, wie man lange Zeit angenommen hat, nach Art eines pythagoreischen Ordens organisiert war, in dem nur das Wort des Schulgründers zählte, sondern eine Stätte freier und offener philosophischer Debatten unter gleichberechtigten Mitgliedern war, an denen sogar Frauen teilnehmen durften.1 Das Zusammentreffen zweier der intelligentesten Menschen, die die Geschichte hervorgebracht hat, im anregenden intellektuellen Ambiente einer offenen philosophischen Gemeinschaft führte zu einem einzigartigen theoretischen Innovationsschub. Platon als Wegbereiter neuer Ideen und Aristoteles als Vollender, der den vagen neuen Ideen erst ihre präzise Gestalt gab – dieser Konstellation verdanken wir unsterbliche Erfindungen: Dialektische Argumentationstheorie, formale Logik, analytische Wissenschaftstheorie, essenzialistische Metaphysik, [9]wissenschaftliche Biologie und Psychologie, empirische Theorie des Stadtstaates und Ökonomie, Ethik des guten Lebens, Rhetorik und Poetik – all diese Disziplinen wurden von Aristoteles nicht nur erfunden und entwickelt, sie enthielten auch zentrale Ideen, von denen die Geschichte des westlichen Denkens mehr als zwei Jahrtausende bestimmt werden sollte. Die einzigartige Innovationskraft seines philosophischen Denkens steht daher im Mittelpunkt dieser Einführung.

      Die zweite Auflage enthält gegenüber der ersten Auflage eine Reihe von substanziellen Ergänzungen: Die aristotelische Psychologie wird nun ausführlicher dargestellt. Daher wird das ursprüngliche Kapitel über Physik, Theologie und Biologie in zwei eigenständige Kapitel über Physik und Theologie sowie über Biologie und Psychologie transformiert. Auf diese Weise kann der aristotelischen Auffassung, dass die Theologie ein Bestandteil der Physik und die Psychologie ein Bestandteil der Biologie ist, besser Rechnung getragen werden. Das Kapitel über Metaphysik wurde vollständig überarbeitet und erheblich erweitert. Insbesondere werden Inhalt und theoretische Relevanz des VIII. Buches der Metaphysik sowie die systematische Einheit von Buch VII und VIII als Kern der reifen Metaphysik deutlicher herausgearbeitet. Und schließlich werden Rhetorik und Poetik, die in der ersten Auflage nicht näher berücksichtigt wurden, in Gestalt eines neuen Kapitels gewürdigt.

      [10]Dialektik und Analytik

      Die sokratische Idee, so wie Platon sie gedeutet hat, ist im Kern die Forderung, nicht einfach unter dem Diktat unserer natürlichen urwüchsigen Wünsche und Begierden durchs Leben zu trudeln, sondern zu klären, was ein gutes Leben für uns wäre, welche Art von Mensch wir sein wollen und wie wir unsere Vorstellungen von einem guten Leben realisieren könnten. Dieser Klärungsversuch muss, der sokratischen Idee zufolge, von einer kritischen und argumentativen Prüfung verschiedener Entwürfe von Lebensprojekten begleitet sein. Wir sollten also ein geprüftes Leben führen. Damit treten wir in das Spiel des Gebens und Einforderns von Gründen ein – wir gehen aus dem Reich der Natur unserer gegebenen Präferenzen in den logischen Raum der Gründe über. Dieser Schritt liegt in unserem wohlverstandenen rationalen Eigeninteresse und ist die allgemeinste Form der Bildung (paideia). Die klare Artikulation dieser großen Idee ist ein bedeutendes Verdienst Platons.

      In diesem praktischen Kontext wird die Frage wichtig, welche Gründe gute Gründe sind und wie wir zwischen guten und schlechten Begründungen unterscheiden können, und zwar unabhängig von dem Gegenstandsbereich, über den wir reden. Diese spezifische Unterscheidungsfähigkeit nennt Aristoteles »Bildung« – ganz im Geiste Platons, aber präziser als sein großer Lehrer (PA 639a 1–15).

      Bemerkenswert ist dabei die klare Unterscheidung zwischen der inhaltlichen und formalen Beurteilung einer Argumentation. Die formale Beurteilung eines Arguments erfordert kein inhaltliches Wissen, sondern nur [11]methodisches Wissen. Damit können wir prüfen, ob die Prämissen eines gegebenen Arguments, wenn sie wahr sind, gute Gründe für die Konklusion des Arguments abgeben, ohne dass geprüft werden müsste, ob die Prämissen wirklich wahr sind. Hier liegt der entscheidende Grund dafür, dass die formalen Disziplinen, die dieses methodische Wissen entfalten, nicht auf einen spezifischen sachlichen Gegenstandsbereich gerichtet sind und allein nicht für einen Zugewinn an sachlichem Wissen ausreichen (Top. I 1, 100a 18–20).

      Vor Aristoteles gab es weder eine klare Unterscheidung zwischen der inhaltlichen und formalen Beurteilung einer Argumentation noch auch nur einen Ansatz zu einer Ausarbeitung formaler Disziplinen. Es ist eine der größten innovativen Leistungen des Aristoteles, eine solche Ausarbeitung zum ersten Mal – und bereits auf hohem Niveau – vorgelegt zu haben. Er hat dabei sogar schon zwischen methodischen Standards allgemeiner Gesprächsführung (Dialektik) und strengen Regeln des korrekten Schließens (Syllogistik) unterschieden.

      Die Dialektik als formale Technik der Unterredung und Diskussion lehrt, wie wir beliebige Thesen, die von unseren Diskussionspartnern präsentiert werden, auf ihre Begründbarkeit oder Widerlegbarkeit prüfen können. In seiner Schrift Topik hat Aristoteles die formale Technik der Unterredung in außerordentlich differenzierter Form ausgearbeitet. Wir können uns hier nur einige allgemeine Richtlinien und Beispiele vor Augen führen, um einen Eindruck von der aristotelischen Topik zu gewinnen.2

      Der Ausdruck »Topik« ist abgeleitet vom griechischen Begriff topos für »Ort« oder »Raum«. Ein dialektisches [12]Gespräch im Sinne der Topik ist eine Unterhaltung zwischen einer Person, die eine These aufstellt


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