Das Kind vom anderen Stern. Ross Welford
ist bloß noch fünfzehn Meter vom Steg entfernt. Ihm steht das blanke Entsetzen ins Gesicht geschrieben, als er merkt, was vor sich geht.
»Schwimm, Iggy. Schwimm! Dreh dich nicht um. Schwimm einfach!«, brülle ich aus Leibeskräften.
Er dreht sich trotzdem um und erstarrt für einen Moment vor Schreck. Dann beginnt er mit seinem freien Arm, wild um sich zu schlagen, die Beine strampeln hilflos, Suzys Kopf hält er weiterhin über Wasser.
»Los, Iggy! Das schaffst du!«
Noch zehn Meter. Fünf. Wieder höre ich das Surren. Das Ding bewegt sich übers Wasser und kommt mit jedem Zug, den Iggy macht, näher. Ich lege mich flach auf den Stegboden und strecke ihm die Hand hin.
»Du schaffst es! Komm!«
Dann schreit Iggy auf, lässt Suzy los und verschwindet unter der schwarzen Wasseroberfläche.
5. Kapitel
Kurz darauf taucht Iggy wieder auf und kreischt: »Es … es … hat … hat …« Anscheinend kämpft er mit irgendetwas im Wasser, als würde er mit den Beinen festhängen.
Wie durch ein Wunder hat er noch immer seine Brille auf dem Kopf. Er schnappt sich Suzy und rudert einarmig zum Steg. Ich ziehe ihn rauf.
»Mein … mein Bein«, stöhnt er. »Mich hat’s … erwischt.«
Iggys Fahrradlicht liegt noch auf dem Steg. Ich hole es, und als der Strahl sein Bein trifft, weiche ich entsetzt zurück.
»Ist … ist es sehr schlimm?«, fragt er.
Ich nicke. Der Drillingshaken steckt tief in seiner Wade und hat durch das Strampeln schon ein großes Stück Fleisch rausgerissen. Iggy muss sich beim Schwimmen in seiner Angelschnur verfangen haben, die ihn jetzt wie einen Fisch am Haken hat. Ein rotes Rinnsal aus Blut und Wasser strömt zurück in den See. Als Iggy sich ans Bein fasst, stöhnt er erneut auf.
»Ruf meine Mutter an«, krächzt er.
»Klar, mach ich. Halte durch. Alles wird gut.«
Ich zerre mein Handy aus der klitschnassen Jeans.
So schlimm ist es auch wieder nicht, sage ich mir. Iggy wird schon nicht gleich hier auf dem Steg verbluten.
Ich versuche, das Handy einzuschalten. Nichts.
Handys und Wasser sind keine gute Kombi. Ich probiere es wieder und wieder.
»Wo ist denn deins?«, frage ich Iggy.
Sein Atem geht schnell und stoßweise. »Meine Mumeine Mutter hat es einkassiert.«
Das glaube ich jetzt nicht.
In meiner Verzweiflung springe ich auf und brülle: »Hilfe! Hilfe!« Iggy liegt flach auf dem Steg, er keucht und ächzt.
»Hört … hört dich ja doch keiner«, presst er hervor und stöhnt vor Schmerz auf.
»Ich renn hoch zum Weg. Wenn ein Wagen vorbeikommt, halte ich den an. Du wartest hier.«
Was denke ich mir bloß dabei? Da fährt doch nie einer lang, höchstens alle Jubeljahre mal ein Waldarbeiter. Kann ich in meiner Panik nicht mehr klar denken? Als ich halb die Böschung hoch bin, wird mir klar, dass ich einen Verletzten, triefnass und unterkühlt, ganz allein in der Dunkelheit zurückgelassen habe. Total daneben.
Nur kurz hüpfe ich unschlüssig von einem Bein aufs andere, dann kehre ich um und renne zurück zum Ufer. Ich sehe Iggy da unten am Steg liegen, genau wie ich ihn verlassen habe. Doch plötzlich … Ich bleibe stehen und schnappe nach Luft.
Aus dem Nichts ist noch jemand aufgetaucht.
Ich weiß, wie verrückt das klingt, wie nach einem Zaubertrick oder einem Spezialeffekt. Zuerst liegt da bloß Iggy. Und im nächsten Moment … steht da eine Gestalt vor ihm. Woher soll die denn gekommen sein? Es gibt doch nur diesen einen Weg zum Steg.
Als ich unten angelangt bin, höre ich diesen Jemand sprechen. Er oder sie steht mit dem Rücken zu mir und hat mich noch nicht bemerkt, auch Iggy scheint mich noch nicht gesehen zu haben. Na ja, er friert und blutet sich ja halb zu Tode, da hat er andere Sorgen. Immer noch flach atmend liegt er da, den Kopf Richtung See gewandt. Die Person gibt erst eigenartige quiekende Laute von sich. Dann kann ich auf einmal Worte ausmachen.
»Ich habe dich gehört. Ich helfe dir.«
Iggy fährt herum und weicht sofort erschrocken zurück, dabei glitscht er in seinem eigenen Blut aus.
Ich eile ihm zu Hilfe, vorbei an dieser Person, die einen zotteligen Pelzmantel zu tragen scheint. Mehr nehme ich im ersten Moment nicht wahr, denn ich habe nur Augen für Iggy.
»Alles okay?«, frage ich. »Tut mir leid, dass ich dich allein gelassen habe. Aber nun ist ja jemand da, der uns helfen kann, gut, was?« Iggy schielt durch die verschmierten Brillengläser an mir vorbei zu der Gestalt hinter mir. Keine Ahnung, warum er so panisch aussieht.
»Tai-Tait. Was … was …?« Iggy bekommt kaum einen Ton raus.
Seine Augen sind noch immer auf die fremde Person geheftet, also drehe ich mich um. Was ich da sehe, ist so schrecklich, dass ich nach hinten stolpere und der Länge nach hinfalle. Panisch krabble ich rückwärts bis ans Ende des Stegs. Ich kann den Blick nicht abwenden und will doch nur so schnell wie möglich weg.
Iggy verrenkt sich fast den Hals nach mir, kann aber nicht so rasch weg wie ich und liegt da, keuchend vor Angst.
Das Wesen hat eine schimmernde silberne Mähne und ein Gesicht. Ein menschliches Gesicht. Oder zumindest menschenähnlich. Es ist geformt wie ein Gesicht, nur ist es behaart, mit weit auseinanderstehenden blassen Augen und einer riesigen Nase, die wie bei einem Hamster zuckt.
Wäre ich noch ein bisschen jünger, hätte ich mir jetzt glatt in die Hose gemacht, solche Angst habe ich. Aber das tue ich zum Glück nicht.
Irgendwie ähnelt das Wesen einem Menschen. Es hat zum Beispiel zwei Arme und zwei Beine. Abgesehen von der langen Mähne auf dem Kopf ist der übrige Körper mit einem hellen gräulichen Flaum überzogen, wie aufgeplustert. Hinten hat es einen langen Schwanz, der sich geschmeidig wie der einer Katze bewegt. Also beides: Es ist irgendwie menschlich und irgendwie ganz und gar nicht menschlich.
Es sieht mich eine Weile mit seinen großen Augen an, bevor es sich zum Wald umdreht, die Nase in die Höhe reckt und schnuppert. Dann wendet es sich wieder um und macht einen Schritt auf uns zu. Als Iggy und ich uns wegducken, bleibt es stehen und schnüffelt erneut. Schließlich schüttelt es sich so heftig, dass sein Fell in Bewegung gerät. Es zieht die Oberlippe zurück und ein paar lange gelbe Zähne kommen zum Vorschein.
Jemand wimmert. Im ersten Moment merke ich nicht mal, dass ich das bin.
6. Kapitel
Iggy findet als Erster die Fassung wieder. »Wer … wer bist du?
Was willst du? Bitte, tu mir nicht weh.«
Wortlos schreitet das Wesen zu uns und wir weichen weiter von ihm ab, bis wir am Ende des Stegs angelangt sind. Von da geht es jetzt bloß noch in den See. Sogar Suzy hat den Rückzug angetreten, nachdem sie sich das Wasser aus dem Gefieder geschüttelt hat.
Das Wesen beugt sich vor, sodass es mit dem Kopf nicht mehr als eine Armlänge entfernt ist. Erst schnüffelt es und dann grunzt und quiekt es wieder, bevor es sagt: »Du hassst dirrr ja schon selbssst wehgetan.«
Seine Stimme klingt eigenartig, schrill und kehlig zugleich. Das Etwas spricht scharf und überdeutlich wie die alte Sheila aus dem Dorf. Vielleicht hat es die Sprache erst neu erlernt. Mit seinem dünnen, haarigen Finger zeigt