Sag jetzt nichts, Liebling. Hanne-Vibeke Holst
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Hanne-Vibeke Holst
Sag jetzt nichts, Liebling
Aus dem Dänischen
von Christel Hildebrandt
Saga
Sag jetzt nichts, Liebling ÜbersetztChristel Hildebrandt Original En lykkelig kvindeCoverbild/Illustration: Shutterstock Copyright © 1998, 2020 Hanne-Vibeke Holst und SAGA Egmont All rights reserved ISBN: 9788726569582
1. Ebook-Auflage, 2020
Format: EPUB 3.0
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Sibiu (Hermannstadt), Rumänien
»Sie haben in Sarajewo eine Granate abgefeuert auf eine Schlange von Menschen, die nach Brot anstanden!« jammere ich im Halbschlaf. Die Träume halten mich fest, sie sind voller Schrecken. »Verstümmelte Frauen und Kinder ...«
»Ja«, flüstert er, streift mir die Bluse ab, findet meine Brust. »Verstümmelte Frauen und Kinder. Es war schrecklich. Ich war dort. Gleich hinter ihnen.«
»Aber Geliebte, du warst doch nicht da ...«
»Doch! Habe ich Brot geholt? Oder war ich es, die die Granate abgefeuert hat?« frage ich und möchte am liebsten wieder weinen, als er in mich eindringt. Vielleicht weine ich tatsächlich, während ich meine Schenkel um seine Lenden schlinge. Da klingelt das Telefon. Das ist Paul. Ich weiß es.
Erster Teil
Zarinas dritter Geburtstag fällt auf einen Sonntag, und sie bekommt die Geburtstagsfeier, die sie sich gewünscht hat. Mit Torte, Kakao und einer Kuchenfrau, die gerade auf der mittleren Schiene des Backofens zu zerfließen droht. Die Gäste kommen in einer halben Stunde, so daß ich wieder einmal feststellen muß, daß Paul recht hat, wenn er sich darüber beschwert, daß mein Sinn für gutes Timing sehr zu wünschen übrig läßt. »Man kann eben nicht den halben Vormittag im Bademantel herumrennen und englische Sonntagszeitungen lesen, wenn man zehn Leute zum Kaffee eingeladen hat!«
Die Gästeliste hat das Geburtstagskind selbst aufgestellt. »Es sollen alle kommen!« hatte sie schon vor langer Zeit mit ihrem hartnäckigen drop-dead-Blick beschlossen, der in auffallendem Kontrast zu ihren Prinzessinnenlocken und den Samtund Seidenkleidchen steht, für die sie eine Vorliebe hat. Und die auch ohne viel Nachdenken von ihrem Vater erstanden werden, der sie verwöhnt, als wäre sie Rhett Butlers vergötterte Tochter – und der sie deshalb selbstverständlich darin unterstützt, daß solide Overalls von H&M nichts für ein Mädchen sind. Er flechtet ihr die Haare, lackiert ihre Zehennägel und läßt sich willig und mit sichtlichem Vergnügen um ihren pummeligen kleinen Finger wickeln.
Ihr Bündnis ist fast unerträglich, aber ich finde mich mit der mir zugewiesenen Rolle der Madame mit verschränkten Armen ab, da mein frauensüchtiger Liebster seinen Drang nach Verführung nunmehr in eine hemmungslose Vaterliebe sublimiert hat. Er ist uns treu, kann gar nicht anders, will gar nicht anders. Das ist ein Versprechen und eine Beteuerung zugleich, die anzuzweifeln ich weder Grund noch Lust habe. Der Schreck über meine Flucht Hals über Kopf nach Læsø vor ein paar Jahren steckt ihm immer noch in den Knochen. Er glaubte – und glaubt heute noch –, daß die Reise übers Meer ein Racheakt und eine Strafmaßnahme war. Daß ich geplant hatte, ihn zu verlassen und nie wieder zurückzukehren. Vielleicht ist das nicht besonders nett von mir, aber ich habe ihn in diesem Glauben gelassen, habe ihm nie erklärt, daß meine Wut über seine Promiskuität nur der Anlaß war, damit ich das tun konnte, was ich mußte: meinen Vater wiederfinden.
Vielleicht habe ich es ihm auch nicht erzählt, weil die Reise in gewisser Weise ein Fiasko war. Wie bei Columbus, der auszog, um den Weg nach Indien zu finden, und statt dessen Amerika entdeckte. Ich zog aus, um den Vater zu finden, den ich verloren hatte, und fand einen Menschen, der zwar mein genetischer Ursprung war, der aber nicht mehr imstande war, das Vakuum auszufüllen. Trotz langer, intensiver Gespräche unter dem Strohdach in den kühlen Zimmern meines Großvaters, trotz des Versuchs, die verlorenen Jahre zu rekonstruieren, trotz eines durch das gleiche Blut erzeugten Einverständnisses zwischen uns, wenn wir am Strand der Insel in der Dämmerung spazierengingen, wurde mir schmerzlich klar, daß ich ihn nicht in meine Kindheit zurück reden konnte. Er war nicht dort gewesen und würde sich – es sei denn durch ein Wunder – auch niemals dorthin versetzen lassen. Ein Familienbild ohne Vater. So war es, und so würde es immer sein und immer bleiben. Punkt. Ende.
Für mich war diese Erkenntnis nur schwer in Worte zu fassen, für ihn war es möglicherweise nur eine Art Kompromiß, mit dem zu leben er schon seit langem gelernt hatte: Er hatte seine Töchter verlassen, als sie noch klein waren, und sie dadurch verloren. Ich weiß nicht, ob das stimmt, denn auch wenn es uns gelang, lange Gespräche zu führen, bevor ich die Fähre nach Frederikshavn nahm, so ließen wir doch die Schlußfolgerungen wie Strandgut in der Brandung zwischen uns schwimmen. Und da schaukeln sie immer noch. Aber ich weiß, und er weiß, daß wir, auch wenn wir einander verbunden sind, nur ein schmales Brett haben, auf dem wir balancieren, wenn wir ab und zu die Schlucht überqueren, um die Welt des anderen zu besuchen. Seltene Besuche auf neutralem Boden, heimliche Treffen an wechselnden Orten, denn mein Alleingang wurde von meiner unversöhnlichen Truppe nicht gutgeheißen. Ich hatte mir ganz naiv vorgestellt, daß ich als Parlamentär auftreten könnte, der die diplomatischen Beziehungen wiederaufnehmen und die Erde für eine fruchtbare Zukunft bereiten würde. »Mir i drusjba!«, Frieden und Freundschaft, wie es immer bei den Toasts in der seligen Sowjetunion geheißen hatte. Aber Kiki, meine kleine Schwester, vergibt nie. Sie wollte ihm nicht vergeben und war kurz davor, auch mich zu verstoßen, als ich als besudelte Verräterin heimkehrte. Meine Mutter, die Primadonna des Nationaltheaters mit einer Vorliebe für tragische Rollen, leidet witzigerweise in ihrem Privatleben an einer panischen Angst vor Dramen, weshalb sie sich ganz einfach in Schweigen geflüchtet hat. Sie schließt die Ohren und redet vom Wetter, wenn ich versuche, sie zu einer Stellungnahme dazu zu bringen, daß ihr Exmann, unser Vater, sich nach fast fünfundzwanzig Jahren im spanischen Exil wieder auf dänischem Boden befindet. Ihre Verbitterung kann ich zur Not noch verstehen, auch wenn die Dimension mir etwas übertrieben erscheint. Still crazy, after all these years ...
Aber Paul ... Warum Paul nicht in der Lage ist, den Großvater seiner Tochter ganz einfach anzunehmen, indem er ihm sein Haus – unser Haus! – öffnet, ist eines der Mysterien, die zeitweise unser Zusammenleben verschleiern. Paul selbst meint, daß er sich da »bombensicher« ist – warum sollte er sich mit einem Mann an einen Tisch setzen, der seiner Geliebten das Leben schwergemacht hat. Und wie könnte er es zulassen, daß seine eigene Tochter vielleicht der gleichen Enttäuschung ausgesetzt wäre. Als mir zum ersten Mal diese Monstertheorie präsentiert wurde, war ich vollkommen sprachlos. Beim zweiten Mal schmiß ich einen Florentinischen Fayenceteller auf die Küchenfliesen, und beim dritten Mal nahm ich die Autoschlüssel und haute ab. Brauste zum Strandvej und manövrierte den Wagen an einen Sandstreifen bei Snekkersten, wo ich auf einem Stein sitzen und auf den Sund starren konnte, während ich eine Zigarette rauchte und wieder zur Ruhe kam. Ich ließ die Asche in den Sand fallen und beschloß, ihn da nicht mit hineinzuziehen. Er würde ja doch nichts verstehen.
Vielleicht mache ich es mir also zu leicht, aber seitdem habe ich seine Weigerung mit Nachsicht zur Kenntnis genommen und meinen Vater nur in Nebensätzen erwähnt. Was ihn irgendwie unruhig macht, denn eine Ahnung ist schlimmer als Gewißheit. Er weiß, daß wir in Kontakt stehen, aber nicht, wo und wann. Natürlich abgesehen von dem einen Mal im Sommer, als ich Zarina ihren Großvater im Zoo treffen ließ. Zur gegenseitigen Faszination und Begeisterung. Zarina, die ansonsten nicht gerade schüchtern ist, klammerte sich lange Zeit an mich, und ich mußte ihr eine lange, geflüsterte Erklärung darüber geben, wer dieser ältere, graumelierte Mann da war. Daß es mein Vater war und daß er früher einmal Großmutters Mann gewesen war, so wie Freddy jetzt. Zarina sah mich stirnrunzelnd an – aber,