Die Legende von Arc's Hill. Michael Dissieux

Die Legende von Arc's Hill - Michael Dissieux


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      Emma … war das ihr Name? Nach einer Weile ergriff er das brüchige Leder des Buches, schlug es auf und las weiter in den Aufzeichnungen des Charles Ward.

      10. Februar 1966

      Der Aufstieg zum Tempel war auch in dieser Nacht nicht erschöpfend. Wie ich mir erhofft hatte, fand ich den Weg mit erschreckender Leichtigkeit zurück in diese fremdartige, verlassene Stadt. Fast schon ergriffen die Zweifel die Oberhand, dass dieser Ort nur ein Traumgespinst zu sein vermag. Doch möchte ich meine Mutmaßungen nicht hier und jetzt zu Papier bringen; zu fantastisch erscheinen mir diese Gedanken. Als ich das Portal der Tempelanlage durchschritt, erwartete mich mein merkwürdiger Gastgeber bereits. Wie in der Nacht zuvor, war er nichts weiter als eine schattengleiche Gestalt, die inmitten der gigantischen Tempelhalle stand.

      Ich wagte kaum, mich ihm zu nähern, zu groß war mein Respekt, aber gleichzeitig auch meine Furcht vor diesem von Licht beschienenen, konturenlosen Wesen, welches das einzige in dieser Stadt war, das mich an einen Traum denken ließ. Zu surreal mutete diese Kreatur an – sei es ein Mensch oder eine andere, schwer vorstellbare Wesensart.

      Ich wollte das Wort an das Geschöpf richten, so wie in der Nacht zuvor. Trotz aller Furchtsamkeit hatte ich innerlich beschlossen, dessen absonderlichen Geheimnis auf den Grund zu gehen. Doch noch bevor ich meinen Mund öffnen und gedankenlose und an diesem Ort unangebrachte Worte aussprechen konnte, vernahm ich plötzlich eine hohe, Echo begleitete Stimme in meinem Kopf.

      Ich wusste sofort, dass diese Stimme, die mich an den fernen Singsang eines Männerchores erinnerte, ihren Ursprung in diesem hellen Lichtwesen besaß, das nach wie vor bewegungslos in der Mitte der Halle harrte.

      Die Gestalt redete in einer fremden Sprache zu mir, die ich, ohne dass ich einen Gedanken daran verschwendete, verstehen konnte. Sie erzählte mir von der Stadt und davon, wie sie einst voller Leben war. In einer Zeitepoche, die lange vergessen und im nebligen Morast der Vergangenheit versunken war, hatten die Stadt und ihre Gebieter über eine Welt geherrscht, die lange vor der unseren untergegangen war.

      Der Name der Stadt lautete Re´grith Dath – die Traumstadt, die man nur des Nachts erblicken konnte. Nur wenige waren dazu auserkoren, jemals einen Fuß in diese Stadt zu setzen. Und es waren noch weniger, die sich in der Morgendämmerung ihrer erinnerten. Ich sei einer dieser wenigen Auserwählten, so erzählte mir das Wesen. Dabei erfüllte seine melodische Stimme meinen Kopf wie die Verführung der Sirenen. Er erzählte mir, Re´grith Dath sei untergegangen. In einem gewaltigen Krieg, mit einer Macht außerhalb unserer Welt, sei die Stadt mit all ihren Bewohnern und Palästen und blühenden Gärten in einem schrecklichen und stinkenden Aschenregen versunken und im Laufe der Zeitalter in Vergessenheit geraten.

      Selbst der Name der Stadt war den Ruinen in die dunkle Vergangenheit gefolgt. Nur wenige wussten der Legenden der versunkenen Stadt Re´grith Dath, und diejenigen, die davon sprachen, wurden eingesperrt oder lebten abgeschieden und dem Wahnsinn verfallen in tiefen Höhlen, in die nie das Licht des Tages drang. Bald schon würde es nicht einmal den Hauch einer Erinnerung an diese Stadt geben, und auch der letzte Geist die Mauern des Hohetempels verlassen haben.

      Und dann erzählte mir die Gestalt in ihrer lichtgetränkten Herrlichkeit von einem Ort in dieser Welt, die wir die unsere nennen. Sie erzählte mir von Arc´s Hill.

      Der Ort sei seit Anbeginn aller Zeiten ein mystischer Platz im Kosmos gewesen, denn er beherbergte die verschlossene Pforte, einen alten, toten Baumkreis in den Bergen. Ein Ort, an dem in frühen Zeitaltern Dämonen und Teufel tanzten und mit den Herrschern anderer Welten palaverten und tranken und aßen. Dort, an jenem versteinerten, vorzeitlichen Ort, fand man die Pforte und den langen Gang, der hinunter nach Re´grith Dath führte.

      Denn was nicht vergessen, war nicht tot, und was nicht tot, würde wieder auferstehen.

      Der Geist aus Licht und Schatten, der letzte Hohepriester von Re´grith Dath, erzählte mir mehr. Mit Worten, die feiner als die leiseste Musik waren. Ich verfiel diesen Worten.

      Er, der Nad´naruhl mit Namen hieß und einst über die prächtigen Bauten und breiten Straßen und blühenden Schlossgärten herrschte, erzählte mir, was zu tun sei, um nach Re´grith Dath zu gelangen. Er brachte mir die Worte bei, die nötig waren, um die versiegelte Pforte zu öffnen …

      … und die dunkle Stadt aus ihrem stillen, verborgenen Grab zurück ans Licht zu bringen, wo sie einst über ungezähmte Welten herrschte.

      Doch erst galt es, den toten Baumkreis zu finden …

      An dieser Stelle waren einige Seiten aus dem Tagebuch gerissen. Mikes Finger glitten über die gezackten Überreste, dort, wo die Seiten offenbar in Eile entfernt worden waren. Er zählte vier und fragte sich, was Charles Ward der Nachwelt verschweigen wollte.

      Die fünfte Seite war nur zur Hälfte herausgerissen … die Schrift kaum zu entziffern.

      13. Februar 1966

      Ich hatte den Baumkreis gefunden, auf einem Felsplateau, das schwer zugänglich ist. Es war eine kalte Nacht mit tief hängenden, schwarzen Wolkengebilden, doch glaubte ich weniger, dass mein Frösteln vom scharfen Nordwind herrührte. Ich begann die Worte zu sprechen, die mich Nad´naruhl gelehrt hatte. Nur wenige kennen diese Worte, und ich bin einer dieser wenigen Auserwählten.

      Ein seltsames Gefühl hielt mich gefangen. Auf der einen Seite eine schier ungebändigte Furcht vor dem, was da kommen möge. Doch wurde dieses Entsetzen fast vollständig von einer nahezu unmenschlichen Neugierde verdrängt, wie ich sie nicht einmal als Kind empfunden hatte. Wusste ich doch, dass mein Handeln inmitten des steinernen Baumkreises die Grenzen des Universums zu zerrütten vermag und die Geburt eines neuen, ewigwährenden Zeitalters einläuten konnte. Ich bin Teil von etwas Großem, Unfassbarem. Ich bin der Auserwählte.

      Während ich den Gesang der versunkenen Stadt anstimmte, spürte ich, wie die Erde unter meinen Füßen erzitterte. Ich weiß nicht, ob ich mir dies nur einbildete, denn meine Nerven waren bis aufs Äußerste angespannt. Aber eines war ganz sicher kein Trugschluss … je öfter ich die alten Worte Nad´naruhls wiederholte und mich dabei unweigerlich in einen tranceähnlichen Zustand versetzte, desto deutlicher erschien mir das Flüstern, das an meine Ohren drang. Erst dachte ich an den kalten Wind, der aus den Bergschluchten zu mir herüberwehte und mir eine letzte Warnung zuzurufen schien. Doch mittlerweile bin ich mir sicher, dass das Flüstern eine Stimme war. Worte, die tief aus der Erde auf meinen monotonen Gesang zu antworten schienen …

      Eine Stimme aus der Erde.

      Mike spürte eine Kälte, die nicht einmal das prasselnde Kaminfeuer zu bändigen vermochte.

      Der Rest der Seite fehlte, und auch die nächsten Seiten hatte eine unwirsche Hand aus dem Tagebuch gerissen. Dann stieß Mike auf einen einzigen Satz, den Ward scheinbar in seinen furchtsamen Aktionen zu entfernen übersehen hatte.

      Ich habe die Stadt gesehen; Re´grith Dath … die schwarze Stadt, tief in der Erde …

      Und dann, etwas später, mit fahriger, fast kindlich wirkender Schrift …

      … Pesthauch aus der Urzeit …

      Die restlichen Seiten des alten Buches fehlten … bis auf die Letzte. Sie war zerknittert und eingerissen, und Mike hatte Mühe, die zittrige Handschrift zu entziffern. Es waren nur ein paar Sätze, die sich scheinbar ziellos über die Seite erstreckten. Es waren die Worte eines Mannes, den Furcht lenkte und dessen Gedanken nicht mehr die seinen schienen. Ich kann nicht zulassen, dass Nad´naruhl sich der Träume meiner geliebten Frau und Töchter bemächtigt. Niemand soll jemals wieder einen Fuß in diese schreckliche Stadt setzen. Die Pforte muss auf ewig verschlossen bleiben, die Legende vergessen werden.

      Es darf keine Träume mehr geben, denn wenn Re´grith Dath aus der Asche geboren wird, werden die Welten sterben. Meine Familie darf nicht träumen … ich darf nicht träumen … niemand darf träumen …

      Hier endete das Tagebuch des Charles Ward.


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