Wer die Leidenshaft flieht. Barbara Cartland

Wer die Leidenshaft flieht - Barbara Cartland


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      »Was ist das?«

      »Es hat Madame gehört«, antwortete Marie. »Sie hat immer darauf bestanden, daß wir einen kleinen Spargroschen im Haus haben. Sie konnte sich noch zu gut an die Invasion von 1870 erinnern und wußte, was im letzten Krieg mit dem Franc geschehen ist. ,Wir haben das Gold, Marie', hat sie oft zu mir gesagt. ,Gold hat immer seinen Wert.' Und so haben wir es versteckt.«

      »Aber Marie, das kann ich nicht annehmen!«

      »Es gehört Ihnen, weil Sie Monsieur Lucien geliebt haben und er Sie«, erklärte Marie einfach.

      Für Marie war es selbstverständlich, daß Fleur das Gold mitnahm, in ihren Augen stand es ihr zu. Es hatte keinen Sinn vorzuschlagen, Marie sollte es selbst nehmen.

      Impulsiv beugte sich Fleur vor und küßte Maries faltige Wange.

      »Danke, Marie. Ich werde es so ansehen, als wäre es ein Vermächtnis von Lucien. Vielleicht hilft und beschützt es mich während dieser Reise.«

      »Wir befinden uns alle in Gottes Hand«, seufzte Marie.

      Einen Moment lang hielt sie Fleur fest in den Armen. Fleur spürte, daß sie in diesem Augenblick endgültig Abschied von Lucien nahm.

      Sie schritt mit dem Korb in der einen und der Tasche in der anderen Hand die Auffahrt entlang und sah mit den weiten Röcken und flachen, praktischen Schuhen tatsächlich wie eine Bäuerin aus.

      Sie bemerkte Fabian, der unter den Bäumen stand und auf sie wartete. Er kam auf sie zu, und als er ihr den Korb aus der Hand nahm, wandte sie sich noch einmal zum Château um.

      Ein Bild aus der Vergangenheit, dachte Fleur; und das alles ist nun vorüber - vorüber und unerreichbar: Sie wunderte sich, daß sie dieser Gedanke nicht trauriger machte. Eigentlich hätten sich ihre Augen mit Tränen füllen müssen. Aber merkwürdigerweise fiel ihr der Abschied gar nicht so schwer. Sie ertappte sich sogar dabei, daß sie beschwingt und voller Energie neben Fabian herlief, der begeistert über ein solches Abenteuer war. Er behauptete, daß er sie beneide, weil sie so viel von Frankreich sehen werde.

      »Es wird nicht gerade ein Vergnügen werden«, bemerkte Fleur halb vorwurfsvoll, weil er die Gefahr dessen, was sie vorhatte, nicht erkannte.

      »Es macht immer Spaß, den Boche zu täuschen«, widersprach er lachend. »Ich habe hier Ihre Papiere, Mademoiselle. Mein Vater hatte die gute Idee. Diese Bescheinigung ist nur eine Erlaubnis, den Markt von Bugale zu besuchen. Danach wird man Sie nur einmal fragen. Später, wenn Sie umsteigen, zeigen Sie die neuen Papiere her. Ein Marktbesuch macht hier im Dorf niemanden mißtrauisch. Eine weite Reise jedoch würde bestimmt die Aufmerksamkeit der Kontrolleure erregen.«

      »Ich verstehe. Würdest du deinem Vater bitte sagen, wie dankbar ich bin? Ich habe nur Angst, daß er selbst in Schwierigkeiten gerät.«

      »Vater wird schon dafür sorgen, daß das nicht geschieht. Sie können von Glück sagen, daß er diese Formulare parat hatte, Mademoiselle. Er hat sie einem Deutschen abgenommen, der eines Abends zu viel getrunken hatte. Bevor er zu Bett gehen wollte, hat er, ohne zu ahnen, was er eigentlich tat, ein paar Reisegenehmigungen unterschrieben. Manche sind uns schon nützlich gewesen. Aber natürlich verwendet Vater sie nur in Notfällen.«

      »Das ist klug von ihm.«

      »Die Weisheit der Schlange!« prahlte der Junge.

      Sie näherten sich dem Bahnhof. Fabian blieb im Schatten eines Heuhaufens stehen und zog die Papiere hervor. Fleur stopfte sie in Maries alte, abgenutzte Tasche, die sie tief in die Seitentasche ihres Rockes schob.

      Es kam ihr merkwürdig vor, keine Handtasche zu tragen, aber Marie wollte das nicht zulassen.

      »Sie dürfen kein Mißtrauen erregen.«

      Fleur hatte verstanden. Sie hoffte nur, daß kein neugieriger Deutscher darauf bestehen würde, ihr Gepäck zu durchsuchen; das würde sie schneller verraten als alles andere.

      Der Bahnsteig war von Menschen überfüllt. Nach außen hin sahen sie aus wie Leute, die zum Markt drängten, um zu kaufen und zu verkaufen. Aber wenn man näher hinsah, erkannte man, daß sie kaum Waren bei sich hatten. Die großen Körbe, in denen sich vor Kriegsbeginn wohl ein paar fette Enten, dazu pfundweise goldene Butter und ein Dutzend große, braune Eier befunden haben mochten, waren jetzt leer. Die wenigen, die Lebensmittel transportierten, blickten aufmerksam um sich, als müßten sie einen wertvollen Schatz hüten.

      Man hörte kein fröhliches Geplapper und keinen Klatsch, wie es früher bei den Marktbesuchern üblich war. Die Passagiere standen stumm und mit hängenden Schultern da - ein müdes Volk, für das Zugfahren kein Abenteuer mehr bedeutete, sondern eine unausweichliche Last.

      Fabian verabschiedete sich von Fleur.

      »Gehen Sie bis zum Anfang des Zuges, Mademoiselle«, riet er ihr. »Dort sind weniger Leute.«

      »Das werde ich tun. Nochmals vielen Dank.«

      Fleur wollte ihm etwas schenken und zog eine Zwanzig-Franc-Note aus ihrer Brieftasche, aber er wies es entschieden, fast unhöflich, zurück.

      »Sie werden das noch brauchen, Mademoiselle«, meinte er und fügte mit plötzlichem Ernst hinzu: »Wir haben Monsieur Lucien nicht vergessen - keiner von uns im Dorf.«

      Fleur fühlte, wie ihr die Tränen in die Augen stiegen. Sie konnte nicht antworten, deshalb wandte sie sich eilig ab und betrat den Bahnhof.

      Ihre Genehmigung wurde kontrolliert und ihr dann wiedergegeben; unsicher, ein wenig ängstlich ging sie den Bahnsteig entlang und hatte das unangenehme Gefühl, daß ihr die Blicke aller folgten. Aber niemand war neugierig, dazu waren alle zu erschöpft und niedergeschlagen.

      Der Zug lief ein und stieß schwarze Rauchwolken aus. In dem Abteil, in dem Fleur Platz nahm, saßen noch eine alte Frau, die einen zugedeckten Korb im Arm hielt und die Hand eines kleinen Mädchens umklammerte, ein Arbeiter, der seine Pfeife rauchte, deren Rauch die Luft im Wagen mit einem unangenehmen Geruch erfüllte, und eine Nonne, die in einer Ecke ihren Rosenkranz betete und niemals die Augen zu einem der anderen Reisenden hob.

      Nach einer Weile durchbrach das Kind das Schweigen: »Grand mère, j'ai faim. «

      Ihre Großmutter bückte sich und sprach leise auf das Kind ein. Fleur hörte, wie die alte Frau das Mädchen tröstete und versprach, später etwas zu Essen zu besorgen.

      »Aber ich bin jetzt hungrig«, jammerte das Kind und klopfte sich auf den kleinen Bauch.

      Die Großmutter wurde ein wenig ungehalten. Das Kind verstummte, aber seine Lippen bewegten sich weiter, und Fleur sah, daß es wieder und wieder vor sich hin sagte, daß es hungrig sei.

      Sie erreichten Bugale, und Fleur war erleichtert, dem bedrückenden Schweigen der Menschen entfliehen zu können. Sie stieg in einen anderen Zug. Ihre Reise war lang und unbequem, der Anblick des verarmten, belagerten Frankreich deprimierte Fleur. Die Menschen waren niedergeschlagen, und überall herrschten Not und Hunger in dem einst so fruchtbaren und ergiebigen Land. Wo waren die Viehherden, die die grünen Weiden bevölkert hatten, die sich zu den gewundenen Flüssen hin erstreckten? Die Gehöfte, an denen sie vorüberfuhren, wirkten verlassen und heruntergekommen.

      Es ist ein trauriges Land, dachte Fleur und fühlte, wie sich ihr Herz vor Mitleid zusammenzog.

      Am Himmel kreiste ein deutsches Flugzeug, zog langsam vor dem wolkenlosen Blau dahin - so war Lucien auch einmal geschwebt ...

      Weiter und weiter fuhr sie. Die Räder des Zuges dröhnten monoton in ihren Ohren, und das Stampfen schien unaufhörlich dieselbe Frage zu stellen: »Und wenn ich angekommen bin... was dann?«

      4

      Fleur stand vor dem kleinen Bahnhof und blickte sich benommen um. Sie war so müde, daß sie gar nicht richtig begriff, daß sie tatsächlich am Ziel ihrer Reise angelangt war.

      In der Ferne konnte sie das Meer sehen, das im Licht der Nachmittagssonne glitzerte. Laut kreischende


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