Der Tod steht auf der Schwelle - Skandinavien-Krimi. Kirsten Holst
Kirsten Holst
Der Tod steht auf der Schwelle – Skandinavien-Krimi
Übersetzt Hanne Hammer
Saga
Der Tod steht auf der Schwelle – Skandinavien-Krimi Übersetzt Hanne Hammer Original Se døden på dig venter Coverbild/Illustration: Shutterstock Copyright © 1997, 2020 Kirsten Holst und SAGA Egmont All rights reserved ISBN: 9788726569520
1. Ebook-Auflage, 2020
Format: EPUB 3.0
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1
Der schwere, süße Duft des Geißblatts erfüllte die feuchte Abendluft und schloss alle anderen Gerüche aus. Die Ranken wanden sich an beiden Seiten des altmodischen Villeneingangs zu dem kleinen Balkon mit Eisengitter hoch und ihre hellgelben Blüten leuchteten im Dunkeln wie kleine, krumme Kinderfinger. Ein von dem Duft angelockter Nachtschwärmer flog so nah an seinem Gesicht vorbei, dass er die federleichte Berührung durch die samtigen Flügel auf seiner Haut zu spüren meinte. Einen kurzen Moment stand sein Herz still, dann begann es, allzu schnell und heftig wieder zu schlagen.
Du bist aus der Übung, alter Junge, sagte er sich. Oder du wirst langsam alt. Es besteht kein Grund, nervös zu sein. Verdammt, was du hier tust, verstößt nicht einmal gegen das Gesetz.
Trotzdem spürte er etwas von der Erregung, die immer von ihm Besitz ergriff, wenn Adrenalin ausgeschüttet wurde. Das war das Leben. Das einzige Leben, das zählte. Sein Leben.
Lautlos wechselte er die Stellung und nahm die Tasche in die andere Hand, während er leise lächelte. Vielleicht hatte er sich in Wirklichkeit deshalb für diese Vorgehensweise entschieden. Um noch einmal die Spannung zu spüren, um sich zu beweisen, dass er es noch konnte; um zu leben. Es war völlig unnötig, vorsichtig zu sein, aber es gehörte einfach dazu. Er hätte genauso gut zur Eingangstür gehen, schellen und, falls sie zu Hause war, die alte Dame bitten können, etwas aus der Wohnung ihrer Mieterin holen zu dürfen. Aber sie hatte bei seinem Anruf am Nachmittag misstrauisch und abweisend geklungen, sodass er nicht sicher war, ob sie eine wildfremde Person hereingelassen hätte. Außerdem wollte er nicht, dass man seinen Spuren allzu leicht folgen konnte.
Aus diesem Grund war er auch nicht zu seiner eigenen Wohnung gefahren. Er war davon überzeugt, dass Grete sich an ihre Abmachung gehalten hatte: Falls sie verreist war, wollte sie ihm eine Nachricht in den Briefkasten werfen. Er wusste, dass sie dort lag; auf Grete war Verlass. Doch im Moment half ihm das wenig. Er konnte nur hoffen, dass die anderen sie nicht gefunden hatten oder dass sie ausreichend verschlüsselt war.
Er trat aus dem Schatten und sah zu den Fenstern hoch. In keinem brannte Licht, und als er, bevor er hierher gefahren war, von einer Telefonzelle aus angerufen hatte, war trotz des langen Klingelns niemand ans Telefon gegangen. Die alte Dame war bestimmt in der Stadt oder sie schlief wie ein Stein. Nein, sie war wohl nicht zu Hause. Er lauschte angestrengt und glitt lautlos zur Eingangstür. Er konnte es genauso gut hinter sich bringen, sonst riskierte er nur, auf frischer Tat ertappt zu werden. Es gab keinen Grund, noch länger zu warten. Niemand ahnte, dass er hier war, alles war still und dunkel und der Lärm der Stadt nur als schwaches Brummen im Hintergrund zu hören. Man fühlte ihn mehr, als dass man ihn hörte. Es war über eine halbe Stunde her, dass er ein Auto auf der Straße gehört hatte, und das hatte sehr viel weiter unten gehalten. Anständige Menschen, die eine kleine abendliche Spazierfahrt gemacht hatten und zur bürgerlichen Schlafenszeit nach Hause kamen, schätzte er. Jedenfalls nichts, was ihn etwas anging.
Er steckte den Schlüssel ebenso lautlos in das Schloss der Eingangstür, wie er sich ihr genähert hatte. Im Grunde war das sein einziges Talent: sich lautlos zu bewegen, dachte er und schnitt eine Grimasse. Schon als Junge hatte er sich darin geübt und es später zur Perfektion entwickelt. Er konnte ungesehen und ungehört kommen wie ein Schatten.
Indianer hatten sie ihn auf dem Gymnasium genannt und der Name war an ihm hängen geblieben, auch nachdem sie herausgefunden hatten, wie effizient er in Wirklichkeit war.
Er schloss die Tür hinter sich und blieb einen Moment im Dunkeln stehen, um sich zu orientieren. Er war vorher nur ein einziges Mal hier gewesen, hatte es sich aber zur Gewohnheit gemacht, sich seine Umgebung einzuprägen. Man wusste nie, wann man dieses Wissen einmal brauchen konnte.
Langsam und vorsichtig stieg er die Treppe hinauf. Treppen konnten einem mit knarrenden Stufen und losen Geländern oder Leisten unangenehme Überraschungen bereiten, aber diese machte keine Probleme. Natürlich nicht, dachte er. Bei Grete war eine mit irgendwelchen Schäden behaftete Treppe einfach nicht vorstellbar.
Einen Moment später hatte er sich Zugang zu ihrer Wohnung verschafft. Die erste Phase war überstanden, jetzt kam die nächste und die war weitaus schwieriger. Wer suchet, der findet! Er musste suchen und vor allem musste er finden, auch wenn er die ganze Nacht dazu brauchte. Seine gesamte zukünftige Existenz, all seine Pläne, all seine Träume hingen davon ab.
Es roch ein wenig stickig in der Wohnung. Sein Instinkt sagte ihm, dass seit Gretes Abreise niemand hier gewesen war. Das war zumindest beruhigend. Es galt demnach lediglich herauszufinden, wo die gute, alte Grete ihn versteckt hatte. Wo könnte das sein? Bestimmt an keinem besonders originellen Platz, sagte er sich. Warum also nicht einfach mit dem Schreibtisch anfangen?
Er wagte nicht, Licht einzuschalten, sondern begnügte sich mit der kleinen MagSolitaire, deren Lichtstrahl er sorgfältig nach unten hielt. Der Schreibtisch stand am Fenster, ein großes altmodisches Monstrum mit Schränkchen auf beiden Seiten und einer Schublade in der Mitte. Eine Bodendiele knarrte leise, als er darauf zuging, und er trat schnell zur Seite, auch wenn das hier nicht nötig schien.
Er öffnete die Schreibtischschublade, zögerte jedoch leicht, als sie einen kratzenden Laut von sich gab. Dann schüttelte er über sich selbst den Kopf, zog die Schublade ganz heraus, ohne auf den Lärm zu achten, und begann, ihren Inhalt im Schein der Taschenlampe zu studieren.
Høyer und seine Frau saßen auf der Terrasse hinter dem Haus. Zwischen ihnen auf dem Tisch standen eine Weinflasche und zwei Gläser.
Høyer lehnte sich im Stuhl zurück, griff nach seinem Glas und trank einen großen Schluck. Er holte tief und genießerisch Luft. Eine Vielfalt von Düften prickelte in seiner Nase. Frisch gemähtes Gras, Erde, Rosen, Weißwein – ein Sommerpotpourri.
»Und jetzt geht der Mond auf«, sagte er. »Mein Gott, was will man! Und voll ist er auch noch!«
»Das bist du bald auch«, lachte seine Frau.
Das Licht vom Wohnzimmer fiel auf die Terrasse und im Hintergrund war gedämpft das Radio zu hören.
»Ich kann mir nie richtig darüber klar werden, ob es ein Sakrileg ist, Musik zu hören, wenn man draußen in der Natur sitzt, oder ein zusätzliches Plus«, sagte Høyer.
»Das kommt auf die Musik an«, sagte seine Frau. »Die hier passt doch ausgezeichnet zu der Stimmung.«
Sie lauschten beide. Es war eine Sendung über Bellman. Trink aus dein Glas, der Tod steht auf der Schwelle.
»Dann also Prost«, lachte Høyer. »Auch wenn ich das für eine schlechte Entschuldigung halte zu trinken.«
»Ich finde, man braucht überhaupt keine Entschuldigung«, sagte seine Frau. »Aber ich glaube, ich gehe rein und schalte aus. Oder willst du die Nachrichten hören?«
»Nein, Gott bewahre!«, rief Høyer. »Es geht uns gerade so gut. Stell dir vor, sie sagen, dass die Welt untergegangen ist, während wir hier gesessen haben. Das erfahren wir noch früh genug. Schalt aus.«
Er schenkte den letzten Wein in ihre Gläser, während er summte: »Trink aus dein Glas,