Blut und Wasser. Jurica Pavicic

Blut und Wasser - Jurica Pavicic


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gibt an der Pforte seinen Ausweis ab und geht in den ersten Stock. Das ganze Gebäude besteht aus gleich aussehenden Gängen mit hellem Holzfußboden und Türen aus hellem Sperrholz. Entlang der Gänge reiht sich ein Büro an das nächste und über jeder Tür befindet sich eine Glasscheibe. Mate ist enttäuscht. Das Polizeipräsidium ist nichts weiter als ein langweiliges Verwaltungsgebäude.

      Er irrt durch die Gänge und liest die Namen an den Türen. Schließlich findet er die Tür, an der Gorki Schains Name steht. Er klopft und Schains Stimme fordert ihn auf einzutreten

      Im Raum sitzen zwei Polizisten: Schain sowie ein unbekannter, korpulenter älterer Mann, der sich als Tenzer vorstellt. Die beiden sitzen zwischen Schränken aus Sperrholz und Papierstapeln. Vor jedem steht eine Olympia-Schreibmaschine. Hinter Schain hängt ein überdimensioniertes Porträt von Tito an der Wand. Mate kennt dieses oder ähnliche Bilder aus seiner Schule. Man sieht Tito im Halbprofil, und egal wo man steht, hat man das Gefühl, Tito würde einen anschauen.

      Schain und Tenzer befragen ihn lange und ausführlich. Mate hat erwartet, sie würden ihn zu der Nacht von Silvas Verschwinden und Leuten aus Misto befragen. Doch das interessiert die beiden gar nicht. In den zwei Stunden, die sie ihn vernehmen, erwähnen sie Misto kein einziges Mal. Sie interessieren sich ausschließlich für Silvas Leben in Split. Sie fragen, ob er sie im Schülerinnenwohnheim besucht habe. Ob er ihre Mitbewohnerinnen und Freundinnen kenne. Sie wollen wissen, ob er nach der Schule lange in der Stadt bleibe, oder ob er gleich nach Hause fahre. Er soll alle Leute nennen, mit denen Silva sich in Split trifft. Sie stellen eine Reihe sehr detaillierter Fragen zu Silvas Leben in Split. Ob Silvas Mitbewohnerinnen Drogen nehmen. Ob er wisse, wo Silva an einem bestimmten Dienstag oder Mittwoch gewesen sei. Mate ist selbst überrascht, wie wenig er ihnen sagen kann. Silvas Leben in Split ist auch für ihn ein Geheimnis gewesen.

      Dann fragt Schain ihn nach dem gleichen Namen wie Jakob. Cvitko, Mario Cvitkovic. Als Schain seine Frage stellt, beobachtet er Mate ganz genau, als suchte er nach dem kleinsten Hinweis auf eine Lüge.

      Mate schüttelt den Kopf. Nein, Silva habe nie einen Cvitko erwähnt und wer das überhaupt sei. Schain antwortet nicht. Der andere, Tenzer, nickt nur bedächtig und meint, das sei nicht wichtig.

      Mate verlässt das Präsidium um fünf und ist verängstigt. Er hat keine Lust nach Hause zu fahren. Lange streift er durch die Stadt. Er sieht Straßen, Häuser, vertraute Plätze. Aber plötzlich scheinen sie eine neue Bedeutung zu haben. Der vertraute Raum hat nun etwas Bedrohliches.

      Als er schließlich nach Hause kommt, schlagen ihm Jakobs Unruhe und Neugier entgegen. Jakob macht ihm ein Sandwich und schenkt ihm ein Glas Milch ein. Er fragt nach dem Besuch bei der Polizei und Mate berichtet ausführlich.

      Er beißt in sein Sandwich und fragt: »Wer ist dieser Cvitkovic?«

      Jakob steht schweigend auf und beginnt, das Geschirr vom Abendessen zu spülen. Er dreht Mate den Rücken zu und Mate kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass er das nur tut, um Mate nicht ins Gesicht lügen zu müssen.

      »Weißt du es?«, fragt er noch einmal. »Weißt du, wer dieser Cvitkovic ist?«

      »Nein«, antwortet sein Vater. »Ich weiß es nicht.« Er dreht den Wasserhahn zu und verlässt die Küche.

      3 Jakob (1989)

      Es ist ein drückender Tag, an dem Jakob zur Befragung aufs Revier fährt. Den Himmel bedecken bleigraue Wolken und Wind aus Südosten bringt warme, schwüle Luft nach Split. In der Schalterhalle im Erdgeschoss des Polizeipräsidiums warten viele auf Reisepässe und Führerscheine. Der Wind macht sie nervös. An allen klebt der Schweiß, sie sind schnippisch, aufbrausend, sie hassen einander und sich selbst.

      Bis zu jenem 23. September dachte Jakob, ihr Leben wäre normal, sie wären eine normale Familie mit zu vernachlässigenden Problemen. Die ganzen Jahre über hatte er geglaubt, eine dickköpfige, außergewöhnliche und rebellische Tochter zu haben. Manches Mal hatte er sich gewünscht, dass Silva gehorsamer, weniger rebellisch, zahmer wäre. Aber er hatte das als Symptom des Erwachsenwerdens gewertet. Jetzt wusste er, dass er falsch lag.

      Denn Silva hatte größere Probleme. Wenn er das bis jetzt auch nicht begriffen hatte, an diesem Morgen wird es ihm klar.

      Er verbringt drei Stunden bei der Polizei. Zwei Polizisten – Schain und Tenzer – befragen ihn über jedes Detail in Silvas Leben: ihre Freunde und Bekannten, Telefongespräche, nächtliche Unternehmungen. Sie fragen nicht nach Misto und auch nicht nach jenem Abend. Sie wollen mehr über Silvas Leben in Split erfahren und mit wem sie hier Kontakt hatte. Sie fragen nach dem Päckchen, das sie in der Regenrinne gefunden haben, nach dem Päckchen, das weiß Gott wie lange vor ihrer Nase gelegen hat und von dem er die ganze Zeit nichts gewusst hat.

      »Hatte sie Besuch aus Split?«, will Schain wissen. »Hatte sie Kontakt zu jemandem? Haben Sie bemerkt, dass sie mehr Geld als sonst hatte? Hat sich irgendeine andere Person an der Regenrinne zu schaffen gemacht?«

      Die Fragen prasseln auf ihn nieder und Jakob hat auf keine eine Antwort.

      Irgendwann verzieht Tenzer mürrisch das Gesicht. »Sie müssen verstehen, dass das hier kein Spaß ist«, sagt er. »Wissen Sie eigentlich, wie viele Drogen in Ihrer Regenrinne lagen? Das Paket«, sagt er, »hat den Wert Ihres Jahresgehalts. Das ist harter Stoff, nicht etwas, das einem Teenie zufällig in die Hände fällt.«

      Nein, so etwas kann einen den Kopf kosten, denkt Jakob. Aber er sagt keinen Ton.

      Dann fällt irgendwann dieser Name. Cvitkovic. Cvitko. Sie fragen, ob Jakob ihn kenne oder von ihm gehört habe. Ob Silva das Café besuchte, in dem dieser Cvitko verkehrt. Das Café heißt Butterfly und liegt im Viertel Manus. Jakob weiß gerade mal so ungefähr, wo Manus liegt. Von einem Café Butterfly hat er noch nie gehört.

      Schließlich zeigen sie ihm ein Foto. Cvitko hat kurz geschnittene Haare und trägt einen Ohrring im Ohr. Auf dem Bild sieht er aus wie ein sympathisches Schlitzohr. Jakob zuckt nur die Achseln und der Polizist nimmt frustriert das Bild wieder an sich. Jakob hat den Mann nie gesehen, weder in Misto noch in Split.

      Zermürbt verlässt er das Präsidium. Auf dem Weg zum Parkplatz wird ihm klar, dass er jetzt einfach noch nicht nach Hause kann. Er schlägt den Weg ins Zentrum ein und taucht in das Gassengewirr mit Studentenkneipen hinter dem Theater ein. Er kommt am Franziskanerkloster vorbei und am Kaufhaus. Schließlich steht er vor dem Schülerinnenwohnheim. Er hat das nicht geplant, der Gedanke ist ihm spontan gekommen.

      Jakob ist nur ein Mal hier gewesen: vor drei Jahren, als Silva eingezogen ist. Wenn sie Silva in Split besuchten, haben sie sich nie hier getroffen, sondern in der Schulaula oder in einer Kneipe, was Jakob im Nachhinein seltsam und verdächtig erscheint.

      Er zögert und geht dann hinein. Auf einmal hat er den überwältigenden Wunsch, ihr Zimmer zu sehen und ihre Sachen zu berühren, sie unter seinen Fingern zu spüren.

      Im zweiten Stock bleibt er vor einer weiß gestrichenen Tür stehen. Von innen hört man leise Popmusik. Da drinnen herrscht offensichtlich keine Trauer.

      Er klopft und öffnet die Tür. In dem Zimmer stehen vier Betten. Eines ist leer und nicht bezogen. Auf zweien lümmeln zwei Teenagerinnen herum. Eine ist blond und hat Sommersprossen, die andere ist dunkelhaarig und trägt eine Zahnspange. Aus Silvas Erzählungen weiß er, dass sie Mirna und Nina heißen, aber er kommt nicht darauf, welche Mirna und welche Nina ist.

      Das vierte ist Silvas Bett. Es steht in einer Ecke am Fenster. Es ist zerwühlt und überall liegen noch ihre Sachen herum.

      »Sind Sie Reporter?«, fragt die Blonde mit unverhohlener Feindseligkeit.

      Jakob zögert und sagt dann: »Ja, ich bin Reporter.« Er erschrickt vor seiner eigenen Lüge, als wäre er in eiskaltes Wasser gesprungen.

      »Ihre Kollegen waren schon hier«, sagt die Blonde.

      »Sie werden hier nichts finden«, ergänzt die Dunkelhaarige. »Die Polizei hat alles mitgenommen. Alles, was verdächtig war.«

      »Verdächtig?«


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