Das hohe Licht. Max Geißler

Das hohe Licht - Max Geißler


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      Max Geißler

      Das hohe Licht

      Saga

      Es war Anfang April und über Santa Ferrara am Berge stürzten aus allen Gipfelrunsen noch Ströme von Silber: der letzte Schnee, der in den Schatten der Schroffen sich verborgen hatte. Bis an die Mauern der Bergwiesen wagte der Schnee sich um diese Zeit, bis an die Mauern, die die Ältesten in Santa Ferrara hatten aufrichten helfen: übereinandergelegte Steine, an den Hängen zusammengelesen.

      Stundenweit wanden sich diese Mauern am Berg empor, von den Tälern anzusehen wie graue Schlangen. Und zwischen ihnen dehnten sich die Weideflächen, über deren sanften Teppich hin die kleinen grauen Bergkühe läuteten. Die Granaten blühten um die Mauerbreschen von Santa Ferrara; und die Passifloren an den Häusern ließen aus dem Rankengewirr ihre Sterne leuchten. Als wolle das Regelmaß ihrer Schönheit mit der Glut in den Feuerbechern der Granaten wetteifern!

      Die Häuser waren niedrig, hatten beinahe flache Dächer aus grauen Pfannen, die einmal rot gewesen sein mochten, und der Kalk zwischen den Steinen der Wände war verwittert. Fledermäuse flatterten in die klaffenden Risse, sobald der Tag über die Gipfel der Gebirge stieg.

      Diese Häuser standen in Grüppchen von dreien und vieren beisammen – wie die Schmuggler in der Bergeinsamkeit. Ringsherum grünten die Weiden; da und dort wölbte eine Edelkastanie ihr mächtiges Laubdach; ihre Wurzeln tranken aus einem rauschenden fußbreiten Bergwasser.

      Und allenthalben an den niedern Mauern entlang schlängelten sich Pfade ... Höher hinauf durch ellenhohes Arvengestrüpp oder halmlanges dürftiges Buschholz. Über Schroffen und Felsplatten – allenthalben schlängelten sich Pfade. Die waren nicht getreten, damit auf ihnen zwei Menschen nebeneinanderschreiten konnten. Sie liefen zu hundert Häusern diesseits und jenseits der Grenze zwischen Welschland und Tirol und liefen doch alle zu einem Ziele. Es waren die Wege der Schmuggler.

      Die Leute von Santa Ferrara besaßen kaum eine der grauen Kühe, die um ihre Hütten auf die Weide gingen; die grünen Flächen gehörten den Gemeinden in halber Höhe des Berges. Nur ein paar Ziegen hatten die in Santa Ferrara; die kletterten noch höher als die Schmuggler und kamen von selbst heim, wenn das Ave aus den Dörfern emporklang oder wenn die vollen Euter ihnen beschwerlich wurden. Noch höher als die Ziegen aber hausten zwei Menschen. Die alte Finotti drüben in der Kapanne am Saume des Himmels und der Einsiedler, der nicht einmal eine Kapanne hatte. Die Nonna Finotti – mit der die Geschichte vom hohen Licht anhebt ... die Nonna Finotti, die auch durch das Ende dieser Geschichte gespenstet – die Alte blieb immer die gleiche. Jahrzehntelang. Darüber wurde sie allgemach Stein. Der Einsiedler aber, der in der Felsenhöhle hauste, wechselte. Einer starb; einer fand einen besseren Platz zur Buße für seine Sünden, ein dritter wollte plötzlich erkannt haben, das Weltleben sei ein dem lieben Gott gefälligeres Werk als dies himmelblaue Dasein auf dem Grate des Berges, auf dem immer im Juni der letzte, im August der erste Rauhreif des Jahres ihm auf die Kutte fiel. Dann kam ein Bergbruder, der Fra Girolamo – etliche sagten: der Teufel hätt’ ihn geholt; denn er hätt’ ihm eines himmelschönen Weibes wegen die Seele verpfändet. Und sei endlich in die Felsenhöhle geflohen in der Meinung, dort fänd’ ihn keiner. Eines Tages jedoch hing die braune Kutte am Einschlupf zum Nest im Gestein, der Bergbruder aber war nicht mehr drinnen ... und dennoch schreitet diese Kutte, die der Teufel verschmähte, da er ihres Bewohners sich sicherte, mitten hin durch die Geschichte vom hohen Licht ...

      Nestweise zusammen standen die Häuser dieses wunderlichen Gemeinwesens am Berge. Nestweise hielten auch die Bewohner von Santa Ferrara zueinander. Und jedes Nest hatte seine Geheimnisse.

      Die Menschen in dem einen kümmerten sich nicht sonderlich um die im anderen. Sie konnten ja nicht einmal den Schein des nachbarlichen Herdfeuers sehen, wenn sie die Köpfe aus den Türen ihrer Häuser steckten. Sie hatten alle genug zu tun mit sich selbst: mit ihren geschmuggelten Waren, mit ihren Pascherplänen, mit ihrer Wachheit und mit ihrem Haß gegen die Zöllner. Die Mädels mit ihrer Liebe.

      Der Schein der Herdfeuer von Santa Ferrara erlosch selten. Auch des Nachts ließ er durch den Hauch eines Mundes sich von neuem beleben; denn unter dem Häuflein Asche auf der Herdstatt glomm die Glut heimlich fort über den Abend hinaus, damit sie aufflamme, wenn einer der Männer von Santa Ferrara, im nächtlichen Dunkel von den Grenzwächtern verfolgt, Schutz an einem solchen Herdbrande suchte.

      Am laurigsten mußte das Feuer der Schenke zum hohen Licht unter seiner grauen Zudecke schlafen.

      Fast regelmäßig um Mitternacht aber ging es auch an in einer kleinen verfallenen Kapanne ganz oben am Berge. Um dies gottverlassene Haus lief der Sturm dreihundert Nächte im Jahr. Und in der Kapanne an den Säumen der Erde saß die Mutter des Weinwirts von Santa Ferrara.

      Ihr Mann war ein Schweinhirte gewesen dem Namen nach; ein Schmuggler aber seiner Art nach. War er gleich der wildeste gewesen, so war sein altes Leben doch auf dem Kastanienlaube im Winkel der Kapanne versickert in die blaue Stille des Todes. Er hatte geschmuggelt Tabak, Salz und Kaffee; er hatte geschmuggelt seine Seele in die ewige Seligkeit; und er hätte auch sein erschmuggeltes Silber mit durch das Rosenrot des Abendhimmels gepascht – aber die Wege dort oben sind ja mit goldenen Kronen und Doppelkronen gepflastert ...

      So blieb das irdische Geld in den Händen seines Sohnes Alberto. Und Alberto Finotti kaufte die Schenke von Santa Ferrara, schmuggelte aus ererbtem Recht, und ließ sein Weib Albina das Herdfeuer hüten.

      Droben in der Kapanne, die so nahe der Grenze des Himmels lag, lebte die Nonna indes ihr wunderliches Traumleben weiter. Wenn sie einer fragte: »An wen glaubst du, Nonna Finotti?« dann sagte sie: »An das Lotto und an die Madonna; denn ich bin eine gute römisch-katholische Christin –« Sie sagte das ganz mechanisch und in einer abgegriffenen Formel; an den Sinn ihrer Rede dachte sie längst nicht mehr.

      Das Lotto war ihr Anker auf der Sturmfahrt durchs Leben gewesen. Wenn es wild wurde um sie her, dann warf sie diesen Anker aus und kam darüber zur Ruhe. Das Lotto hatte ihr die Mitgift gespendet, ohne die sie niemals eines Mannes Weib geworden wäre; dem Lotto dankte sie ihrer Meinung nach alles Glück; das Lotto hatte sie vor Sünde bewahrt – dereinst würde sie ihm also auch den Himmel danken. Und dem Lotto dankte sie zuletzt die Silberstücke, die in dem laubgefüllten Bettsack steckten, auf dem sie schlief.

      Großmutter Finotti hatte das Schlafen in den Tag verlegt; denn um die blauschwarze Mitternacht hatte sie ihre Gesichte: um die blauschwarze Mitternacht oder in den Rinnsalen des Mondlichts stiegen die Frauen und Mädchen aus den Dörfern zu ihr empor und ließen die Glücksnummern der nächsten Ziehung sich verraten.

      Oder sie hockten bei ihr am Herdfeuer und ließen sich eine ›Caraffe‹ brennen. Dazu begoß die Sibylle ein Stück weiße Lammwolle oder die seidigen Köpfe des Moorgrases mit dem Safte aus neunerlei Kraut. Ein schwelender Qualm von wunderlichen Farben stieg empor und ließ die übernächtigen Augen ihre Sehnsucht sehen.

      An den Sparren des Kapannendachs hingen Beutlein mit Vierblättern, jungen Kindszähnen, Schnüren, die in Schneckenschleim silbrig geworden waren, und getrocknete Eidechsen mit zwei Schwänzen ... Wer wundert sich also, daß vor Großmutter Finottis zitterigen Fingern der Vorhang vor der dunkelblauen Zukunft und selbst vor der schimmernden Ewigkeit sich auftat?

      Ihre Hände waren wie getrocknete Kastanienblätter; ihr Gesicht war gedörrt in der Sonne von sechsundsiebzig Bergsommern; ihr Haar war vermodert in fünfundsiebzig Felsenwintern, in denen Schnee und Regen darübergeronnen waren. Und dem späten Brand ihres Herzens gab alles Unkraut des Aberglaubens ein wunderliches Licht und leuchtete bis hinauf in ihre Augen.

      Einmal um Mitternacht fanden sie die Alte an ihrer Herdstatt sitzen und ins Feuer starren. Ihre Augen waren groß und hell wie Morgensterne – aber es war der Schein des Brandes vom Herd, der darin so leuchtete ... Etliche sagten: es wäre die Ewigkeit, die in Nonna Finottis Augen schiene.

      Eine Stunde zuvor war sie gestorben und saß nun noch immer, als starre sie hinüber in die andere Welt.

      In die Kapanne am Saume der Erde, die da droben so recht ein Schemel seiner Füße war, hat danach keiner sein Dasein verpflanzen wollen als Enrico Capobianco, der Roßhirt. Der Kerl sah aus wie eine Kröte, die der Nixenkönigin Silberhaar sich


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